Berlin - . Einsamkeit kann schmerzen und krank machen. Das Thema rückt immer mehr in den Fokus von Wissenschaft und Politik. Was man darüber weiß - und dagegen tun kann.
Wenn der Freundeskreis schrumpft, Partner sterben, die Gesundheit nicht mehr mitmacht oder auch das Geld für Kino und Restaurantbesuche fehlt, können vor allem ältere Menschen schnell in die Einsamkeit abrutschen. Ein Gefühl, das auch Helga Müller aus Berlin-Tempelhof kennt. Ihre Tochter lebt in Athen, die Freunde sind krank, verstorben oder weggezogen. „Ich gehe zwar jeden Tag raus, kaufe ein und mache meine Gymnastik, aber zum Reden fehlt mir jemand“, sagt die 85-Jährige.
Seit fast zwei Jahren kann sich die Rentnerin immerhin auf ein ausgiebiges Gespräch pro Woche freuen. Der in verschiedenen Großstädten aktive Verein „Freunde alter Menschen“ hat ihr Jan Römmler, einen Besuchspaten, vermittelt. „Ich möchte meine Zeit sinnvoll nutzen und anderen schenken“, sagt der 50-jährige gelernte Koch und Frührentner. Man sieht Helga Müller die Freude an. Sie strahlt, als Römmler sie zum Spaziergang abholt.
Einsamkeit hat während Pandemie zugenommen
Das Thema Einsamkeit rückt immer mehr in den Fokus von Politik und Wissenschaft. Im Juni 2022 gab Familienministerin Lisa Paus (Grüne) den Startschuss für eine „Strategie gegen Einsamkeit“. „Ziel ist es, das Thema in Deutschland stärker zu beleuchten und Einsamkeit stärker zu begegnen“, erklärt Axel Weber vom „Kompetenznetz Einsamkeit“ (KNE), das das Ministerium wissenschaftlich unterstützt.
In einer Studie des KNE heißt es, dass vor der Covid-19 Pandemie rund 14 Prozent der Menschen in Deutschland einsam waren. Während der Pandemie sei der Anteil auf 42 Prozent im Jahr 2021 gestiegen. Allerdings wurden alle Menschen mitgezählt, die angaben, sich mindestens manchmal einsam zu fühlen.
„Wirklich dauerhaft einsam fühlt sich eine Minderheit. Die meisten Menschen fühlen sich geborgen“, sagt Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann von der Ruhr-Universität Bochum. Sie geht von etwa fünf Prozent an chronisch einsamem Menschen in der Bevölkerung aus.
Wie sich die Zahl der Einsamen seit der Corona-Pandemie entwickle, wisse man noch nicht. Statistiken seien generell schwierig. „Es gibt keine messbare Definition. In der Wissenschaft wird Einsamkeit als ein Zustand definiert, bei dem die sozialen Beziehungen nicht den Erwartungen der Menschen entsprechen. Dieser Punkt ist für jede Person irgendwo anders“, so Luhmann.
Forschung zu Einsamkeit steht am Anfang
Es lasse sich auch nicht sagen, dass sich die Zahl der Einsamen in den vergangenen Jahrzehnten erhöht habe. „Wir wissen nicht, wie einsam die Menschen vor 20, 30 oder 50 Jahren waren“, so Luhmann. Die Einsamkeitsforschung stecke in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Heute lebten zwar viele Menschen allein. Das bedeute aber nicht automatisch, dass sie sich auch einsam fühlten.
Das KNE will das bestehende Wissen über Einsamkeit bündeln und neues Wissen generieren. Unter anderem erarbeiten die Wissenschaftler laut Weber ein Einsamkeitsbarometer, um Daten über das Phänomen in verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, die sich auch über den Zeitverlauf vergleichen lassen.
Einsamkeit kann krank machen: „Einsamkeit tut weh. Bei chronischer Einsamkeit werden im Gehirn dieselben Areale aktiviert wie bei Schmerz“, so Psychologin Luhmann. Es gebe zwar keine klinische Diagnose im klassischen Sinne für das Gefühl und auch keine Therapien oder Medikamente. Man wisse aber, dass Einsamkeit mit großen Risiken einhergehe. So könne chronische Einsamkeit sowohl psychische als auch physische Erkrankungen wie Depressionen, koronare Herzerkrankungen, Schlaganfälle oder Herzinfarkte begünstigen.
„Wir sind soziale Tiere und dafür gemacht, in Gruppen mit anderen zu leben und dort besonders gut zu funktionieren. Einsamkeit ist gar nicht programmiert in unseren Körpern und unseren Seelen“, ergänzt Eva Peters, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Gießen. Das Gefühl der Einsamkeit bedeute Dauerstress für den Körper, da er sich in ständiger Alarmbereitschaft befinde. Es fehle das soziale Umfeld als Puffer für mögliche Gefahrensituationen.
Unterforderung für das Gehirn
Eine weitere Gefahr bestehe in der fehlenden intellektuellen Herausforderung. „Wenn keine Interaktion und Reize kommen, verkümmert das Gehirn wie ein unbenutzter Muskel. Das kann der Beginn von Alzheimer und Demenz sein“, so Peters.
„Einsamkeit kann einen Menschen von innen regelrecht auffressen“, beobachtet Besuchspate Jan Römmler. So habe Helga Müller in der ersten Zeit einen verkümmerten Eindruck gemacht. „Inzwischen ist sie richtig aufgeblüht“, so die Einschätzung Römmlers.
Eine der wichtigsten Maßnahmen gegen Einsamkeit aus Luhmanns Sicht: Prävention. „Gerade bei Älteren muss man viel in diese Richtung denken, sie ermutigen, dass sie sich, wenn sie es noch können, um ihre sozialen Beziehungen kümmern, sich ein Netz aufbauen.“
Vor allem auch die Politik sei gefragt, etwa bei der Gestaltung des öffentlichen Raumes. „Orte und Gebäude müssten so konzipiert sein, dass sie allen Menschen zugänglich sind. Es geht letztlich immer um Teilhabe“. Bei Älteren sehe sie auch eine große Chance in der Digitalisierung, so Luhmann. Helga Müller zum Beispiel besitzt aber weder Smartphone noch Internet. Auf den Verein Freunde alter Menschen wurde sie durch einen Artikel in einem Mieter-Magazin aufmerksam.