Mülheim. Arbeitnehmer sind verunsichert: Die zu Edeka gehörende Supermarktkette Simmel stattete krank geschriebenen Mitarbeitern Hausbesuche ab. Das Unternehmen wehrt sich gegen die Vorwürfe, dieses Verhalten sei unrechtmäßig gewesen. Aber was darf der Chef wirklich und wo ist die Grenze?

Offenbar müssen sich Arbeitnehmer immer mehr gefallen lassen. Die Mitarbeiter der zu Edeka gehörenden Supermarktkette Simmel mussten im Falle einer Krankschreibung sogar damit rechnen, dass der Chef plötzlich vor der Tür steht. Simmel, der auch Chef des Edeka-Aufsichtsrates ist, betonte, dass die Gutachten einer Wirtschaftprüfungsgesellschaft und einer Anwaltskanzlei sein Vorgehen als zulässig eingestuft hätten. Was ist also wirklich erlaubt? Was darf der Chef und welche Pflichten hat der Arbeitnehmer? Marc Hessling, Anwalt für Arbeitsrecht aus Mülheim an der Ruhr, gibt die Antworten.

Ganz grundsätzlich: Darf ein Arbeitgeber seinen Angestellten nachspionieren, wenn sie krank geschrieben sind?

Es kommt darauf an: Der Arbeitgeber hat die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (den "gelben Schein") des behandelnden Arztes zunächst einmal zu akzeptieren.

Gibt es Umstände, unter denen eine Bespitzelung trotzdem rechtens ist?

Die Arbeitsgerichte behandeln die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als sogenannten "Anscheinsbeweis". Das bedeutet, der Arbeitnehmer gilt für ein Gericht solange als krank, bis der Arbeitgeber das Gegenteil beweist oder berechtigte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat. Ein Mittel dazu ist auch die Observation des Arbeitnehmers, etwa durch einen Privatdetektiv.

Kann sich der Arbeitnehmer in irgendeiner Weise gegen das Nachspionieren wehren?

Dagegen wird man solange nichts unternehmen können, wie der Detektiv nicht in die Privatsphäre des Arbeitnehmers eindringt, sich etwa Zutritt zur Wohnung verschafft etc. Das Bundesarbeitsgerichts (Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 08.05.2009 – 8 AZR 226/08) sieht den Detektiveinsatz als zulässig an und hält den Arbeitnehmer sogar für verpflichtet, dem Arbeitgeber das Detektivhonorar zu ersetzen. Allerdings nur, wenn der Detektiv tatsächlich Erfolg hatte und den Arbeitnehmer tatsächlich dabei erwischt hat, dass er während der Arbeitsunfähigkeit zum Beispiel anderweitig gearbeitet hat. (z.B. der an einer Grippe "erkrankte" arbeitsunfähige Maurer hilft einem Freund auf dessen Baustelle).

Und wenn der Detektiv nicht erfolgreich ist? Hat der Arbeitnehmer ein Recht auf Schadensersatz?

Das hält Verdi von der Bespitzelung

Annette Lipphaus von Verdi NRW erkennt, dass Arbeitgeber in den letzten Jahren vermehrt Detektive einsetzen, um ihre Mitarbeiter zu bespitzeln – nicht nur im Krankheitsfall. Die Rechtsexpertin berichtet sogar von Fällen, in denen Mitarbeiter geschickt wurden, um ihre Kollegen auszuspionieren.

Weil der Arbeitgeber im Zweifelsfall grundsätzlich die Möglichkeit hat, den Medizinischen Dienst mit einer Prüfung der Krankschreibung zu beauftragen, kann Lipphaus nicht ausschließen, dass es für die detektivische Spionage andere Gründe gibt. So kann der Arbeitgeber Druck auf seine Angestellten ausüben.

Versucht der Arbeitgeber oder ein von ihm beauftragter Detektiv in die Privatsphäre des Arbeitnehmers einzudringen, indem er sich z.B. Zutritt zur Wohnung verschafft etc., hat der Arbeitnehmer einen Unterlassungsanspruch und gegebenenfalls einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Der Detektiveinsatz als solcher unterliegt übrigens nicht der Mitbestimmung durch den Betriebsrat.

Und was passiert, wenn der Chef vor der Tür steht? Muss ich ihn hinein lassen?

Wenn der Arbeitgeber bei erkrankten Arbeitnehmern "Krankenbesuche" zuhause durchführen will, ist der Arbeitnehmer auf keinen Fall verpflichtet, ihn hereinzulassen. Selbst wenn im Arbeitsvertrag etwas anderes vereinbart sein sollte.

Kann mir gekündigt werden, wenn ich häufig krank geschrieben bin?

Grundsätzlich ja. Erkrankungen können ein Grund für eine Kündigung sein. Allerdings braucht niemand, der gelegentlich krank wird, gleich mit der Kündigung zu rechnen. Die Arbeitsgerichte prüfen krankheitsbedingte Kündigungen sehr streng.

Dabei unterscheiden die Gerichte zwei verschiedene Arten von krankheitsbedingten Fehlzeiten: Die häufige Kurzerkrankung, insbesondere aufgrund wechselnder Erkrankungen und die Langzeiterkrankung.

Bevor der Arbeitgeber seinem Mitarbeiter kündigen kann, muss er eine so genannte "negative Zukunftsprognose" anstellen. Er muss also sicher sein, dass sich an dem Gesundheitszustand des Arbeitnehmers in nächster Zukunft nichts mehr bessern wird. Zudem muss das Festhalten am Arbeitsverhältnis für den Arbeitgeber unzumutbar sein. Bei häufigen Kurzerkrankungen kann das der Fall sein, wenn der Arbeitgeber immer wieder in die Entgeltfortzahlungspflicht gerät. Als Faustformel gilt: Je kleiner und umsatzschwächer ein Betrieb ist, desto eher ist die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung zu bejahen.

Bei Langzeiterkrankungen kann das Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar werden, wenn der Arbeitgeber keine Möglichkeiten mehr hat, eine Vertretung zu organisieren. In der Regel gehen die Arbeitsgerichte davon aus, dass Arbeitgeber etwa 2 Jahre "Geduld" mit dem erkrankten Arbeitnehmer haben müssen, bevor sie eine krankheitsbedingte Kündigung aussprechen können. Ausnahme: Es ist sofort ersichtlich, dass der Arbeitnehmer nie wieder seine Arbeit aufnehmen kann (z.B. der Dachdecker ist durch einen Unfall irreversibel querschnittsgelähmt und kann daher nicht mehr aufs Dach steigen).

Kann der Arbeitgeber verlangen, dass ein Betriebsarzt die Krankschreibung überprüft?

Der Arbeitgeber hat grundsätzlich keine Möglichkeit, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des behandelnden Arztes durch den Betriebsarzt "überprüfen" zu lassen. Betriebsärzte haben lediglich arbeitsmedizinische Untersuchungen vorzunehmen und die Arbeitgeber in Sicherheitsfragen zu beraten, aber nicht die Diagnosen niedergelassener Ärzte zu "überprüfen". Außerdem sind die Betriebsärzte auch gegenüber dem Arbeitgeber an ihre ärztliche Schweigepflicht gebunden. Es gibt keine Verpflichtung, behandelnde Ärzte oder Betriebsärzte gegenüber dem Arbeitgeber von der Schweigepflicht zu befreien.

Was kann der Arbeitgeber noch unternehmen, wenn er Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers hat?

Er kann den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) beauftragen, die Arbeitsunfähigkeit zu prüfen. Einer solchen Bitte kommen die Krankenkassen allerdings in der Regel nur nach, wenn ernste Zweifel an der Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit bestehen.

Hat der Chef eine Handhabe gegen erkrankte Mitarbeiter, wenn die keine Bettruhe halten?

Kurz gesagt: Es ist alles erlaubt, was die Gesundung nicht verzögert. Wer einen gebrochenen Arm hat, kann ohne Weiteres damit ins Kino oder ins Restaurant gehen, er muss deswegen nicht gleich das Bett hüten. Ein am "Burn-Out-Syndrom" erkrankter Arbeitnehmer kann in seiner Freizeit in einem Chor singen. Was ich während der Arbeitsunfähigkeit "darf", hängt also von der Art und Schwere der Erkrankung ab. Im Zweifel ist es ratsam, den Arzt zu befragen, welche Aktivitäten ratsam sind und welche nicht.

Bin ich verpflichtet, meinem Arbeitgeber detaillierte Auskunft über meine Krankheit zu geben?

Grundsätzlich nein. Das Entgeltfortzahlungsgesetz verpflichtet Arbeitnehmer lediglich dazu, ihre Arbeitsunfähigkeit anzuzeigen, nicht, die ärztliche Diagnose offenzulegen. Anspruch auf eine Auskunft über die Diagnose hat ein Arbeitgeber allenfalls, wenn nach häufigen Kurzerkrankungen oder einer Langzeiterkrankung eine Kündigung in betracht kommt. Davon abgesehen, ist es nicht ratsam, dem Arbeitgeber Einblick in die ärztliche Diagnose zu geben, auch nicht in einem "harmlosen" Gespräch, in dem sich der Arbeitgeber scheinbar fürsorglich um das Wohlergehen des Arbeitnehmers sorgt.

Was passiert, wenn ich im Urlaub krank werde? Habe ich dann einen Anspruch darauf, die Urlaubstage zu einem späteren Zeitpunkt zu nehmen?

Im Urlaub gilt: Sobald ich arbeitsunfähig erkranke, ist der Urlaub beendet. Die Urlaubstage gehen nicht verloren. Wichtig ist daher auch im Urlaub, dem Arbeitgeber die Krankheit zu melden und unverzüglich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zukommen zu lassen. Das gilt auch bei einem Aufenthalt im Ausland. Den Urlaub muss der Arbeitgeber zu einem späteren Zeitpunkt nachgewähren.

Übrigens gilt nach neuester Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Rechtssachen C-350/06 und C-520/06 vom 20.01.2009): Kann der Urlaub krankheitsbedingt nicht im Urlaubsjahr genommen werden, dann darf er nicht verfallen, sondern ist ins folgende Urlausjahr zu übertragen. Beispiel: Ein Arbeitnehmer war das ganze Jahr durchgehend krank und daher nicht in der Lage, seinen Urlaub anzutreten. Hier ist der Urlaub ins nächste Jahr zu übertragen.