Berlin. Jedes Jahr erkranken 4,9 Millionen Deutsche an Depressionen. Eine Online-Therapie könnte es Kranken einfacher machen, Hilfe anzunehmen.
Etwa 4,9 Millionen Menschen in Deutschland erkranken laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen Depression – eine stigmatisierte Krankheit, die oft verheimlicht werde. „Auch eine leichte Depression ist eine schwere Erkrankung. Und sie kann jeden treffen“, sagt Stiftungsvorstand Prof. Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig.
Was in Depressiven vorgehen kann, wenn es darum geht, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen, hat Kabarettist und Autor Tobi Katze beschrieben. In seinem Buch „Morgen ist leider auch noch ein Tag“ schildert er die Angst vor der Offenbarung. „Ich fürchte mich vor dem Moment, in dem jeder begreift, dass ich krank bin im Kopf (...). Ich fürchte mich vor dem, was dann geschieht. Dass mir die (...) Depression wie ein Fehler vorkommt, den es zu beichten gilt, für den ich die verdiente Schuld trage.“ Katze, Jahrgang 1981, hatte Angst einzugestehen, ein anderer Mensch zu sein, als er vorgab – „kein glücklicher Allesschaffer, sondern (...) ein leergefegter Hüllenmensch“. Einer, der froh sei, wenn er schlafe, statt sich schlecht zu finden.
Mangel an Therapieplätzen
Angst, Scham, Verschweigen – neben dem Mangel an Therapieplätzen und daraus resultierenden Wartezeiten von drei bis sechs Monaten sind dies die großen Hemmnisse einer besseren Versorgung. Viele Experten hoffen, dass die Digitalisierung der Medizin die Situation verändern kann.
„Die generelle Wirksamkeit von Online-Interventionen bei Depressionen und Angststörungen ist mittlerweile umfassend belegt“, sagt Prof. Christine Knaevelsrud, Psychotherapeutin und Professorin für Klinisch-Psychologische Intervention an der Freien Universität Berlin. Für die Techniker Krankenkasse (TK) hat sie eine Studie über die Wirksamkeit eines Internet-Depressionscoaches geleitet.
Erfolge der Online-Beratung
Die Ergebnisse ihrer Arbeit gleichen denen internationaler Studien, so die Forscherin: Nach der Online-Beratung hatte sich die Depression der Patienten von einer im Schnitt mittelschweren Erkrankung auf eine mit klinisch nicht mehr bedeutsamem Wert verbessert. „Auch für Posttraumatische Belastungsstörungen haben wir sehr gute Befunde“, sagt Knaevelsrud.
Für die Studie der FU Berlin hatte die TK 1000 Menschen mit Depressionen an den Onlinecoach vermittelt. Über ein passwortgeschütztes Webportal bekamen sie einen Zugang. Via Fragebögen und Telefoninterviews klärten Therapeuten ab, ob eine Internetberatung die Patienten ausreichend unterstützen kann. War dies der Fall, kommunizierten Patient und Therapeut einmal pro Woche via Internet.
Videoschulungen und Schreibaufgaben
Genutzt wurden dabei klinisch erprobte Ansätze, die auch in der Verhaltenstherapie eingesetzt werden. Umgesetzt und ergänzt wurden sie durch multimediale Therapiewerkzeuge, etwa Audio- und Videoschulungen sowie Schreibaufgaben, bei denen sich die Patienten mit schwierigen Lebensabschnitten und aktuellen Stimmungen auseinandersetzten.
Für die Untersuchung waren die Teilnehmenden zudem in zwei Gruppen geteilt. Die Hälfte der Patienten bekam innerhalb von 24 Stunden eine Rückmeldung vom Therapeuten. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit zu Telefongesprächen – vonseiten der Patienten und proaktiv vonseiten der Therapeuten. Die Patienten der Vergleichsgruppe wurden nur im Notfall begleitet.
Therapie in abgelegenen Regionen
Die TK sieht ihren Depressionscoach, der ab Oktober fortgeführt werden soll, „als ideale Ergänzung zu einer klassischen ambulanten Verhaltenstherapie“, vor allem in Regionen mit dünnem Therapieangebot. Bessere Ergebnisse und eine geringere Abbrecherquote zeigten sich in der begleiteten Gruppe.
Auch andere Krankenkassen verhandeln über den Einsatz entsprechender Online-Programme oder bieten diese bereits an. Eine Regelleistung sind sie nicht. Ulrich Hegerl hofft, dass sich dies bald ändern wird. „Nur eine Minderheit der Menschen mit leichten Depressionen bekommt eine psychotherapeutische Behandlung. Wird behandelt, dann in 80 bis 90 Prozent mit Antidepressiva.“
Risiken der Online-Beratung
Er spricht sich dafür aus, die von Ärzten und Therapeuten unterstützte Online-Intervention in die normale Regelleistung aufzunehmen, etwa um Wartezeiten zu verkürzen. „Das Interesse der Hausärzte, sich entsprechend schulen zu lassen, ist groß, der Bedarf ist riesig. Es wäre unverantwortlich, dies nicht intensiver zu nutzen.“
Gleichwohl sieht der Vorsitzende der Stiftung Depressionshilfe auch Risiken. Die Online-Beratung sei kein Ersatz für eine Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie. Sie müsse professionell begleitet werden. „Eine Depression gehört nicht allein ins Selbstmanagement nach Hause vor den Computer. Manche Symptome kann man nur in einer Therapie von Angesicht zu Angesicht einschätzen“, sagt Hegerl. Hinzu komme das Problem der Scharlatanerie. „Im Netz gibt es schon jetzt eine Menge Unfug.“
Anonyme Online-Beratung
Für Christine Knaevelsrud kann eine Online-Beratung gerade wegen der fehlenden Begleitung von Angesicht zu Angesicht Vorteile haben: „Es gibt noch immer viele Menschen, die nicht wollen, dass ihre Therapie bekannt wird.“ Für sie und für Menschen mit einer ausgeprägten sozialen Phobie sei allein die Vorstellung von einem Therapeutenbesuch ein K.-o.-Kriterium.
„Mit herkömmlichen Mitteln erreichen wir einen Großteil der psychisch Erkrankten nicht.“ Bei ihrer Studie etwa habe es einen bedeutenden Anteil von Teilnehmern gegeben, die eine konventionelle Therapie als bedrohlich empfunden und abgelehnt hätten. „Nach der Online-Beratung haben die meisten ihre Meinung geändert. Sie kann ein Instrument der Vertrauensbildung sein.“
Wirtschaftliche Interessen
Die Aufnahme der Beratung in die Regelleistung der Kassen hätte für sie einen wesentlichen Vorteil: Es würden Qualitätsstandards definiert. Das staatliche Gesundheitssystem würde das Thema nicht der Wirtschaft überlassen, „die mitunter auch ohne klinisches Konzept in den Markt drängt“. Warum das so ist, dürften zwei Zahlen verdeutlichen: Es gibt Millionen Betroffene, und die Programme werden für bis zu 300 Euro pro Patient angeboten.
Autor Tobi Katze übrigens hat es irgendwann geschafft, seine Angst zu überwinden. Er habe aufgehört, Stille und Leere in sich mit Party und Alkohol zu füllen. „Das ist der Moment, in dem ich loslasse. Ein Abschied von der Utopie, dass das alles von selbst besser werden könnte“, schreibt er. „Ich kann mich nur selbst retten.“ Katze hat eine Therapie gemacht.