Berlin. Über Fehlgeburten wird öffentlich kaum gesprochen. Viele Frauen schämen sich sogar. Dabei kommen sie häufiger vor, als viele glauben.
Eine Schwangerschaft ist in diesem Land und in dieser Zeit eine vergleichsweise sichere Angelegenheit: Von den ersten Wochen bis zur Entbindung und darüber hinaus wird die Frau beraten und medizinisch begleitet. Die Müttersterblichkeit, also der Tod einer Frau während der Schwangerschaft oder bis zum 42. Tag nach der Entbindung, beträgt nach WHO-Angaben in Deutschland nicht einmal 0,01 Prozent.
Viel höher jedoch liegt eine andere Zahl, über die viel seltener gesprochen wird: die Zahl der Fehlgeburten. „Man schätzt, dass von zehn angelegten Schwangerschaften nur etwa drei mit einem gesunden Kind enden“, sagt Dr. Wolf Lütje, Chefarzt in der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Evangelischen Amalie Sieveking-Krankenhaus in Hamburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für psychosomatische Geburtshilfe und Gynäkologie (DGPFG). In Lütjes Rechnung sind zwar auch die Fälle enthalten, bei denen es schon kurz nach der Einnistung der befruchteten Eizelle zu einer Blutung kommt, ohne dass die Frau etwas von einer beginnenden Schwangerschaft bemerkt hat. Doch auch die spätere Fehlgeburt kommt weitaus häufiger vor als allgemein bekannt. Nicht umsonst warten viele Paare die ersten drei Monate ab, bis sie die freudige Nachricht im Familien- und Bekanntenkreis verkünden.
Wann spricht man von einer Fehlgeburt?
Beträgt das Gewicht des entbundenen Embryos (Bezeichnung vor dem dritten Monat) beziehungsweise des Fötus (ab dem dritten Monat) weniger als 500 Gramm und sind keine Lebenszeichen vorhanden, spricht man von einer Fehlgeburt. Kommt das Kind hingegen mit einem Gewicht von mehr als 500 Gramm zur Welt, entscheiden laut deutschem Personenstandsgesetz drei Merkmale darüber, ob es sich um eine Tot- oder Lebendgeburt handelt: Herzschlag, Atmung, Pulsieren der Nabelschnur. Ist keines dieser Merkmale festzustellen, handelt es sich um eine Totgeburt.
Wie hoch ist das Risiko?
Obwohl die meisten Schwangeren wissen, dass die ersten drei Monate eine kritische Phase darstellen, ist vielen kaum bewusst, wie häufig Fehlgeburten auftreten. Wolf Lütje erlebt immer wieder, dass betroffene Paare in Tränen aufgelöst vor ihm sitzen, „weil sie gar nicht wussten, dass so etwas passieren kann“. Mediziner des Universitätsklinikums Bonn schlüsseln das Risiko für eine Fehlgeburt wie folgt auf: Bis zur fünften Schwangerschaftswoche (SSW) liegt es bei etwa 50 Prozent, in der sechsten bis achten Woche bei 18 Prozent; erst ab der 17. SSW sinkt es auf zwei bis drei Prozent.
Ein wichtiger Aspekt ist zudem das Alter der Schwangeren: Denn je länger sich eine Eizelle im Körper befindet, desto länger ist sie potenziell schädigenden Umwelteinflüssen wie etwa terrestrischer Strahlung oder Schadstoffen ausgesetzt. Dadurch ist das Risiko einer Fehlgeburt bei Frauen zwischen 35 und 40 etwa doppelt bis viermal so hoch wie bei Frauen zwischen 20 und 24. Auch die Fehlgeburt selbst kann zum Risikofaktor werden: Bei drei vorangegangenen Fehlgeburten verdoppelt sich das Risiko, eine weitere zu erleiden.
Warum kommt es zu einer Fehlgeburt?
Eine einzige Fehlgeburt ist medizinisch betrachtet etwas „vollkommen Normales“, sagt Wolf Lütje. „Die Biologie sortiert aus, sie waltet dabei radikal – und nicht immer fehlerfrei.“
Anomalien in der Chromosomenzahl oder Chromosomenstruktur sind dabei die häufigste Ursache. Mit anderen Worten: Der Embryo ist aufgrund gravierender Schäden in seinem Erbgut nicht lebensfähig, also zieht der Körper die Notbremse. Seltener spielen Erkrankungen der Frau oder eine generelle Unverträglichkeit des männlichen und weiblichen Erbgutes eine Rolle.
Dass Sport, Stress oder falsche Ernährung eine Fehlgeburt auslösen können, gehört laut Lütje in das Reich der Märchen und Mythen. „Leider wird das Thema noch immer von Klischees und falschen Vorstellungen beherrscht: Die Behauptung, zu viel Stress löse eine Fehlgeburt aus, ist Quatsch! Meist steckt ein einfaches biologisches Prinzip dahinter – und das sage ich als überzeugter Psychosomatiker.“ Natürlich könnten diese Faktoren „mit reinspielen“, das sei aber keineswegs immer der Fall.
Was bedeutet die Fehlgeburt für die betroffene Frau?
Wolf Lütje hat schon zahlreiche Frauen beraten, die eine Fehlgeburt erlebt haben: Viele von ihnen schämen sich, darüber zu sprechen, weil sie befürchten, verantwortlich zu sein für das abrupte Ende der Schwangerschaft. Andere glauben, ihr Körper funktioniere nicht richtig, und manche sind so verstört, dass sie sich und ihren Kinderwunsch komplett infrage stellen.
Man solle sich davor hüten, die Tragik einer Fehlgeburt an ihrem Zeitpunkt zu bemessen, sagt Lütje. „In einer Studie wurde die These aufgestellt: Je später die Fehlgeburt, desto höher die Traumatisierung – doch so ist es nicht!“ Manche Frauen erleben den Verlust als sehr traumatisch, unabhängig davon, ob es nun in der sechsten oder der sechzehnten Schwangerschaftswoche passiert ist. Andere wiederum können relativ gut damit umgehen.
Dass das Thema nach wie vor tabuisiert wird, macht es für die Betroffenen noch unangenehmer. Wichtig sei daher vor allem die Aufklärung und, wenn nötig, eine psychologische Begleitung. Wer die Gefahr kennt, wer nicht vollkommen unvorbereitet getroffen wird, kann die Situation oft besser bewältigen. Dennoch dürfe das Ereignis weder bagatellisiert noch dramatisiert werden. Die betroffenen Frauen sollten wissen, dass es sich um einen natürlichen Vorgang handelt, an dem sie keine Schuld trifft, sie sollten die eigenen Gefühle zulassen und sich Hilfe suchen, wenn sie merken, dass sie nicht mit dem Erlebten zurechtkommen. Denn meist bedeute eine Fehlgeburt ja nicht, dass ein Paar gar keine Kinder haben kann, merkt Wolf Lütje an. Aber wenn das Misstrauen der Frau in den eigenen Körper anhält, werde die nächste Schwangerschaft für sie umso angstbesetzter, die Geburt dadurch umso schwieriger und auch riskanter. Nach drei Fehlgeburten zahlen Krankenkassen den Betroffenen Untersuchungen zum Ausschluss bestimmter Gendefekte. Bei einer einzigen Fehlgeburt oder zwei Fehlgeburten nach der Geburt eines gesunden Kindes sieht Gynäkologe Wolf Lütje für derartige Diagnostik in der Regel keine Notwendigkeit.
Was bedeutet der Begriff „Sternenkinder“?
Als Sternenkinder werden Kinder bezeichnet, die während der Schwangerschaft oder kurz nach der Geburt sterben. Bis 2013 galten diese totgeborenen oder nicht lebensfähigen Kinder, die weniger als 500 Gramm wogen, als Fehlgeburten und wurden beim Standesamt nicht erfasst. Damit waren sie juristisch nicht existent. Folglich konnten sie nicht bestattet werden, es wurde keine Geburts- und Sterbeurkunde ausgestellt. Das änderte sich, nachdem ein Paar eine Petition an den Bundestag gerichtet hatte, die eine Anerkennung von totgeborenen Kindern unter 500 Gramm als Person forderte. Der Bundestag beschloss eine Gesetzesänderung. Seitdem können die Eltern einen Namen ihres toten Kindes beim Standesamt auch rückwirkend eintragen lassen und es offiziell bestatten lassen.