Berlin/Heidelberg. Jedes Jahr verdrängen oder verleugnen 1300 Frauen in Deutschland, dass sie ein Kind erwarten. Oft ist ein innerer Konflikt die Ursache.
Und plötzlich ist da ein Baby. Ohne Vorwarnung. Ohne Vorbereitung. Meldungen über Frauen, die bis zur Geburt nicht wissen, dass sie schwanger sind, erregen immer wieder Aufsehen. Dabei sei die „Gravitas suppressalis“, die verdrängte Schwangerschaft, häufiger als gedacht, sagt der Berliner Frauenarzt und Psychotherapeut Peter Rott. Eine von 500 schwangeren Frauen sei ihr anderer Umstand nicht bewusst.
In Deutschland gebe es pro Jahr rund 1300 verdrängte Schwangerschaften, erklärt Rott. Bei 270 davon werde diese sogar erst bei der Geburt festgestellt, sagt der Frauenarzt, der sich seit über 20 Jahren mit verdrängten Schwangerschaften beschäftigt. Während seiner mehr als 25 Jahre in der Frauenheilkunde hat er selbst 30 solcher Fälle erlebt.
„Von einer verdrängten Schwangerschaft spricht man, wenn die Frau diese bis zur 20. Woche nicht wahrnimmt“, erklärt Rott. In der Regel dauert eine Schwangerschaft 40 Wochen – den Frauen ist also mindestens die Hälfte der Zeit nicht bewusst, dass sie ein Kind erwarten. Zudem werde zwischen verdrängten und verleugneten Schwangerschaften getrennt. „Der Unterschied liegt in der Wahrnehmung der Frau.“ Während bei einer verdrängten Schwangerschaft nach Angaben Rotts die Gefühle komplett im Unterbewusstsein stattfinden, ist der Frau bei der verleugneten Form eigentlich klar, dass sie ein Kind erwartet. „Sie schiebt es aber weg.“
Eine Abwehr gegen einen inneren Konflikt
Weder die Verdrängung noch die Verleugnung geschehen bewusst. „Schmerzlichen Ereignissen nähern wir uns nur sukzessive oder gar nicht“, erklärt der Psychotherapeut. Eine Abwehr gegen einen inneren Konflikt sei ganz natürlich. „Wir alle kennen das.“ Zum Beispiel wenn eine lange ausstehende Rechnung gezahlt werden muss. Wenn der Konflikt so groß sei, dass ein Mensch ihn nicht mehr ertrage, schiebe er ihn ins Unterbewusstsein ab. Bei den schwangeren Frauen entstehe der innere Konflikt meist aus der Lebenssituation, in die gerade kein Kind passt.
Die bisher umfassendste Studie in Deutschland über nicht bewusste Schwangerschaften wurde 2002 von den deutschen Medizinern Jens Wessel und Ulrich Büscher von der Berliner Humboldt-Universität im Fachblatt „British Medical Journal“ veröffentlicht: Ein Jahr lang – von Juli 1995 bis Juni 1996 – untersuchten sie in Berlin 62 Fälle von Frauen, die mindestens bis zur 20. Woche nichts von ihrer Schwangerschaft wussten. Bei 25 von ihnen wurde die Schwangerschaft erst festgestellt, als die Wehen bereits begonnen hatten. Die Ansicht, verdrängte Schwangerschaften seien selten, treffe nicht zu, schreiben die Autoren.
Neben der Berliner Studie gibt es auch Untersuchungen aus dem österreichischen Innsbruck oder dem US-Bundesstaat Ohio, sagt Frauenarzt Rott. Die Ergebnisse ähnelten sich sehr. In den untersuchten westlichen Ländern ließen sich keine Unterschiede feststellen.
Das gibt es in allen Schichten und Altersgruppen
Dabei gibt es keinen Prototypen einer Frau, die ihre Schwangerschaft nicht bemerkt. „Bei den Studien gibt es nichts, was für eine signifikante Risikogruppe spricht“, erläutert Rott. Verdrängte Schwangerschaften gebe es in allen Schichten und Altersgruppen. Eine stärkere Tendenz sei nur bei sehr jungen Frauen und Frauen in einem Alter, in dem sie nicht mehr damit rechneten schwanger zu werden, festgestellt worden. „Das sticht statistisch aber nicht heraus“, sagt Rott. Etwa die Hälfte der Frauen sei davor bereits ein- oder mehrmals schwanger gewesen.
Ein runder Bauch, Übelkeit und Ausbleiben der Periode – wie können Frauen nicht merken, dass sie schwanger sind? „Man kann alles umdeuten“, sagt Rott. Bewegungen des Kindes werden als Bauchgrimmen wahrgenommen, Gewichtszunahme auf schlechte Ernährung zurückgeführt. Frauen mit ohnehin unregelmäßigen Blutungen machten sich keine Gedanken darüber, dass die Menstruation ausbleibt.
Auch die typische Silhouette mit Kugelbauch lasse sich verbergen: Schlanke ziehen unbewusst den Bauch ein. Bei Frauen mit ohnehin ein paar Kilos mehr auf den Rippen falle der Unterschied weniger auf.
Die Frauen sind keine schlechteren Mütter
Mit einem solchen Fall hatte auch die Heidelberger Frauenärztin und Psychoanalytikerin Susanne Ditz zu tun: Eine 18-Jährige wird mit Verdacht auf eine Nierenkolik ins Krankenhaus gebracht – wenige Stunden später ist sie Mutter. Die starken Rückenschmerzen, die bei Nierenkoliken häufig vorkommen, seien in Wirklichkeit Wehen gewesen, berichtet Ditz. Weil ihr Gewicht schon öfter geschwankt habe, hatte sich die junge Frau keine Gedanken über die Gewichtszunahme gemacht. Die 18-Jährige hatte auch gemerkt, dass ihr Bauch hart wurde. „Sie deutete das aber als Darmprobleme, mit denen sie davor schon zu tun hatte.“ Das Kurioseste an der Geschichte sei gewesen, berichtet die Ärztin, dass die Frau eine Ausbildung zur Arzthelferin machte und auch dort niemandem etwas aufgefallen war. Die Familie der jungen Frau habe das Neugeborene sofort aufgenommen, auch die Beziehung zum Vater hielt. Später sei ein zweites Kind dazu gekommen. „Das war ein guter Fall“, sagt Ditz. Eine Psychotherapie sei nicht nötig gewesen.
Beim größeren Teil der Fälle sei diese nach den Erlebnissen aber unbedingt erforderlich. „Man muss den Frauen mit Empathie begegnen und klar zeigen, dass sie kein Einzelfall und nicht verrückt sind.“ Bei Patientinnen mit psychischen Problemen seien diagnostische Gespräche ratsam. Auch um Schaden zu verhindern. Das Risiko bestehe, dass die Frau sich oder dem Kind nach verdrängten Schwangerschaften etwas antue. Frauenarzt Rott erklärt, dass es in Deutschland pro Jahr etwa 30 Fälle von Kindstötung gibt. Dahinter steckten häufig verdrängte Schwangerschaften.
„Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist häufig anders“
Frauen, die ihre Schwangerschaften nicht bewusst wahrgenommen haben, sind nach Angaben von Ärzten keine schlechteren Mütter. „Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist aber häufig anders“, sagt Ditz. Einige zeigten sich weniger feinfühlig und wirkten im Kontakt mit Kindern unbeholfener. Während der bewussten Schwangerschaft können sich die Frauen auf das Kind einstellen und die Veränderungen ihrer Situation langsam annehmen. „Diese Prozesse fehlen dann bei der Frau.“ Wie lange eine Betreuung der Mütter nach der Geburt dauere, müsse individuell festgelegt werden. Jede Frau brauche unterschiedlich lang, um wirklich Mutter zu werden.