Berlin. Aus Angst vor Jobverlust verschweigen Piloten Depressionen. Ein massives Problem, sagen Experten. Wie lässt sich das Problem lösen?
Ein Jahr nach dem Germanwings-Todesflug 4U9525 wird klar: Dass depressive Piloten fliegen, ist seit 1990 bekannt. Doch das Problem mit Medikamenten am Steuerknüppel wurde klein gehalten. Betroffene schwiegen aus Angst um ihren Job. Waren 150 Tote in den französischen Alpen der Preis für einen ehrlicheren Umgang mit einer Krankheit, die jeden treffen kann?
SSRI ist das Kürzel für sogenannte Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Durch solche Medikamente soll der Botenstoff Serotonin im Gehirn möglichst lange seine Wirkung entfalten und Wohlbefinden erzeugen. Einfach gesprochen sind SSRI Mittel, mit denen sich der Mensch besser fühlt als es ihm geht. Können Antidepressiva Selbstmorde verhindern? „Das erwartet man ja eigentlich von einem Medikament gegen Depressionen“, sagt Professor Tom Bschor, Psychiatrie-Chef der Schlosspark-Klinik in Berlin.
„Doch die Antwort lautet Nein.“ Die Datenlage hierzu sei „sehr gut und sehr eindeutig“. Der Chefarzt stellt klar: „Menschen, die ein Antidepressivum nehmen, und Menschen, die ein Placebo nehmen, verüben gleich viele Suizide und Suizidversuche. Da gibt es null Vorteile für SSRI, in keiner einzigen Studie.“
Rückstände von SSRI bei Piloten gefunden
Andreas Lubitz, der Pilot, der sich und 149 Mitflieger in den Tod riss, hat solche Antidepressiva bekommen. Er war einer von vielen, die dazu griffen. Eine 2003 veröffentlichte Studie mit Daten der US-Luftfahrtbehörde FAA belegte SSRI-Rückstände bei 61 Piloten, die zwischen 1990 und 2001 bei Flugzeugunfällen tödlich verunglückt waren.
AMAS steht für Aviation Medicine Advisory Service – eine Firma mit Sitz in den USA, die Flugzeugführer medizinisch berät. Zwischen 1992 und 1997 befragte sie Piloten, bei denen Ärzte eine Depression diagnostiziert und zur Einnahme von Antidepressiva geraten hatten. Von 1200 Piloten sagten rund 60 Prozent, sie würden die Medikamente verweigern und weiterhin fliegen.
15 Prozent gaben an, die Pillen zu schlucken, weiter zu fliegen, aber die Luftfahrtbehörde nicht zu informieren. 25 Prozent wollten ihre Arbeitsunfähigkeit akzeptieren, sich behandeln lassen und erst nach ärztlicher Freigabe zurück ins Cockpit.
Die Dunkelziffer der depressiven und unbehandelten Piloten sei „zweifellos höher“, ahnten Wissenschaftler der Aerospace Medical Association (AsMA), als sie die Studie auswerteten. Die AsMA bündelt internationales Wissen von 2500 Medizinern, Pflegern und Wissenschaftlern auf dem Gebiet der Flugmedizin. Unter dem Eindruck der Daten empfahl die Organisation 2004, die Strategie eines absoluten Flugverbotes für Piloten, die Antidepressiva einnehmen, neu zu überdenken.
„Wir brauchen ein vertrauensbasiertes System“
Erst die Aufarbeitung der Germanwings-Katastrophe spült die Zahlen ins öffentliche Bewusstsein. Sie tauchen im 124-seitigen Abschlussbericht der französischen Luftfahrtbehörde BEA auf, die das Unglück untersucht hat.
„Wir brauchen ein vertrauensbasiertes System“, sagt der Hamburger Luftfahrt-Experte Heinrich Großbongardt. „Nur angst- und straffreie Offenheit schafft mehr Sicherheit.“ Es müsse „sichergestellt sein, dass Piloten mit Depressionen aufgefangen werden und es nicht das Aus für ihren Job bedeutet, wenn sie sich offenbaren.“
Großbongardt erinnert daran, „dass rund zehn Prozent der Menschen irgendwann im Laufe ihres Lebens eine psychische Krise durchmachen – und Piloten sind Menschen“. Eine Abkehr von der Schweigepflicht für Ärzte, die Flugkapitäne behandeln, ist für den Experten keine Alternative. „Das ist nur scheinbar eine Lösung“, sagt er. „Eine Depression lässt sich verbergen, auch vor dem Arzt.“ Stattdessen müsse „die Hemmschwelle fallen, dem Arzt zu erzählen, was los ist“.