Lüdenscheid. . Bei fast jedem vierten getesteten Kita-Kind in Nordrhein-Westfalen habe man Sprachdefizite festgestellt, teilte kürzlich das NRW-Familienministerium mit. Sprachdefizite, das heißt beispielsweise Stottern oder das Versammeln ganzer Worte. Aber wie erkennt man die behandlungsbedürftigen Störungen?

Bei fast jedem vierten getesteten Kita-Kind in NRW habe man Sprachdefizite festgestellt, teilte erst kürzlich Familienministerin Ute Schäfer (SPD) mit. Aber ab wann sind sprachliche Auffälligkeiten behandlungsbedürftig?

„Im Kindergartenalter, ungefähr mit zweieinhalb bis drei Jahren, sollte der Wortschatz des Kindes explodieren“, erklärt der Lüdenscheider Logopäde Tobias Gehrmann. Allerdings verlaufe die Entwicklung immer unterschiedlich, je nach Interesse und Umfeld des Kindes. So besteht kein Anlass zur Sorge, wenn die Begriffe, mit denen ein Kind nichts anfangen kann, in seinem täglichen Leben bisher nicht vorkamen. „Wenn die Eltern nie zum Bäcker oder Metzger gehen, ist es nicht verwunderlich, dass ihr Kind auch nicht weiß, was es dort zu kaufen gibt“, so Gehrmann.

Grammatik für bilinguale Kinder oft schwierig

Bedenklich ist jedoch, wenn dem Kind die zur Kommunikation notwendigen alltäglichen Wörter fehlen oder es sie nicht miteinander in Verbindung bringen kann. Dann liegt möglicherweise eine Sprachentwicklungsstörung (SES) vor.

Eine SES tritt typischerweise im Bereich der Kommunikation, des Sprachverständnisses, der Wortschatzentwicklung, der Laut-, Wort- oder Satzbildung auf – betrifft oft allerdings auch mehrere Bereiche gemeinsam, so der Experte. Ein Beispiel für eine SES ist auch die „morphologisch-syntaktische“ Störung. Das betroffene Kind ist nicht in der Lage, bestimmte grammatikalische Regeln anzuwenden, beispielsweise das Prädikat anzugleichen, den Plural zu bilden oder Gegenständen das richtige Geschlecht zuzuweisen. „Das ist gerade bei bilingual aufwachsenden Kindern ein häufiges Problem“, sagt Gehrmann. Nachvollziehbar, wenn das Kind in seinen ersten Lebensjahren hauptsächlich eine Sprache gelernt hat und im Kindergarten plötzlich eine zweite hinzukommt. „Es ist oft schwierig, das in einem Kindergartenjahr aufzuholen – und nicht jeder Kindergarten hat Möglichkeiten zur sprachlichen Integration.“

„Nicht jeder Kindergarten hat Möglichkeiten zur sprachlichen Integration“

Ein Kind, dessen Sprachentwicklung problemlos verläuft, kann mit drei, vier Jahren auch schwierige Lautverbindungen seiner Muttersprache wie „fr“, „kl“ oder „tr“ bilden. Das bedeutet nicht, dass es sie auch in jedem Wort richtig benutzen können muss. Solange die Eltern wissen, dass ihr Kind die Laute generell beherrscht, kann der Experte bei einzelnen Fehlern Entwarnung geben. Auch, dass Zischlaute erst spät, etwa mit fünf Jahren, artikuliert werden können, ist normal.

Anders sieht es aus, wenn das Kind gar nicht oder nur sehr schlecht zu verstehen ist: „Manche Kinder mit dreieinhalb verstammeln jedes Wort“, sagt Tobias Gehrmann. Dann sollten Eltern den Besuch beim Logopäden in Erwägung ziehen, um abzuklären, was hinter den Sprachproblemen steckt. Manche sprachlichen Merkwürdigkeiten können als harmlos entlarvt werden, wenn klar ist, dass sie auf Nachahmung beruhen. Das Kind probiert aus, was ihm in seinem Umfeld an Sprachmustern angeboten wird – auf diese Weise übernommene Fehler wachsen sich dann tatsächlich aus.

Einer schlechten Aussprache können aber auch sogenannte „myofunktionelle Störungen“ zugrunde liegen. Das bedeutet, dass Muskeln im Mundbereich nicht korrekt arbeiten, wodurch zum Beispiel falsche Schluckmuster erlernt werden. Oft ist diese Problematik darauf zurückzuführen, dass ein Kleinkind ständig erkältet ist und daher den Mund immer geöffnet hält oder dass es zu lange Schnuller oder Flasche bekommen hat. Die Muskulatur ist dann auch für die richtige Artikulation zu schwach und muss gezielt trainiert werden.

Verschiedene Arten des Stotterns

Bei stotternden Kindern unterscheiden Experten zwischen verschiedenen Arten des Stotterns: Handelt es sich um ein „Entwicklungsstottern“, das zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr entsteht, wenn das Kind von der Fülle der neu gelernten Wörter kurzzeitig überfordert ist, sollten Eltern überhaupt nicht darauf reagieren, um das Kind nicht zu verunsichern. „Dann legt sich das meist nach etwa einem halben Jahr“, so Gehrmann.

Das behandlungsbedürftige Stottern betrifft mehr Jungen als Mädchen und ist genetisch bedingt. Der größte Redner der griechischen Geschichte, Demosthenes, soll Kieselsteine in den Mund genommen haben, um sein Stottern in den Griff zu bekommen. Er musste sich so darauf konzentrieren, nicht auf die Steine zu beißen, dass das Stottern aufhörte. Heute therapiert man mit speziellen Atemübungen, die einen ähnlichen Effekt haben sollen. Allerdings gilt das Stottern zwar als therapier-, jedoch nicht als heilbar. „Für das frühe Kindesalter liegen bewährte Therapiekonzepte vor, die bis zu 90 Prozent aller Betroffenen helfen können“, so der Bundesverband für Logopädie.

Förderung der Sprachentwicklung

Schon wenige Monate alte Kinder können einen Besuch beim Logopäden verordnet bekommen, wenn klar ist, dass geistige oder körperliche Einschränkungen es ihnen schwerer machen, sprechen zu lernen. So kann man sie früh fördern, mit ihnen zum Beispiel das richtige Schlucken trainieren, damit sie ihren Entwicklungsrückstand bis zum Schulbeginn ein wenig wettmachen können.

Weitere Infos zur regulären Sprachentwicklung und zu möglichen Störungen finden sich auf der Webseite des Bundesverbandes für Logopädie, www.dbl-ev.de

Abzugrenzen vom Stottern ist das sogenannte „Poltern“, bei dem ganze Silben verschluckt werden und die Sprache regelrecht davon galoppiert, was ebenfalls behandelt werden sollte. Grundsätzlich gilt: Wer die Sprachentwicklung seines Kindes unterstützen möchte, tut gut daran, ihm vorzulesen und es nicht fortwährend mit „Babysprache“ anzureden. Auch Gesellschaftsspiele, bei denen viel kommuniziert wird, sind ein gutes Mittel. Wichtig sei auch, so der Experte, dass man das Kind nicht zu früh und zuviel allein fernsehen lässt – „der Fernseher fordert keine Reaktion, das Kind verstummt förmlich“. Auch sollte man sprachliche Fehler nicht ständig verbessern, das könne unter Umständen eine „Mir-doch-egal-Haltung“ auslösen oder das Kind so stark verunsichern, dass es gar nicht mehr sprechen möchte.