Essen. Vier Tage auf dem Ruhrtalradweg: Die 230 Kilometer von der Quelle bis zur Mündung prägen ein neues Bild der Region. Wir stellen die Strecke vor.

Die Ruhr, ein Fluss der Vorurteile: All die Industrie, all die Menschen – Andrea Hinz, 45 und aus Düsseldorf, schaut ganz skeptisch. Meine Freundin kennt die Grillplätze in der Mülheimer Aue, den übervollen Baldeneysee aus Skatersicht, Kemnade im Schein des Zeltfestivals – sie weiß, das Ruhrgebiet ist so grün wie abwechslungsreich. Aber muss man vier Tage aufwenden, die 230 Kilometer von der Quelle bis zur Mündung zu radeln?

Natürlich bietet sich der Ruhrtalradweg dank Bahn auch für Tagesausflüge an. „Aber der ganze Fluss ist doch mehr als die Summe seiner Kilometer“, sage ich. Und weil das noch nicht zieht, muss „Der kleine Prinz“ herhalten: „Die Zeit, die du für deinen Fluss verloren hast, sie macht deinen Fluss so wichtig.“ Andrea nickt gequält. 

Winterberg bis Arnsberg, 64 km

Die drei Kilometer vom Winterberger Bahnhof zum Ruhrkopf auf 695 Metern Höhe sind knackig. Aber wie Steigungen sind Quellen reine Kopfsache: Das Rinnsal läppert unter einem Stein hervor, kaum genug, eine Dachrinne zu füllen. Und wüssten wir nicht, dies ist der schlammige Anfang des Ruhrflusses, des Ruhrtals, des Ruhrgebiets – würden wir dann auch diesen gewissen Zauber verspüren? . . . Eher nicht.

„Das Wasser auf der anderen Seite dieses Berges fließt übrigens in die Weser“, erkläre ich. „Faszinierend“, sagt Andrea. „Also, Wasser marsch!“

Die ersten sechs Kilometer geht es auf dem Ruhrtalradweg des geringsten Widerstands bergab. Im Vorbeirauschen nehmen wir wahr: Die erste Industrie an der Ruhr ist ein Sägewerk. Dann passieren wir schon die Gartenzwerge von Niedersfeld, dem ersten Dorf an der Ruhr – huch, die ist ja schon zum Bach geschwollen! Und nach einer Steigung von 15 Prozent sind wir froh, Assinghausen zu erreichen, das Rosendorf. Ein Gemälde aus Fachwerk, Schieferschindeln und natürlich ... einem Gasthof.

Nach der Einkehr müssen wir bis Olsberg dreimal die Bundesstraße queren, aber der Radweg verläuft in wohltuender Distanz – was sich bis Bestwig leider ändert. Der Fluss gräbt das Tal, dem alle Wege folgen.

Hernach versöhnen: Nadelhölzer, sanfte Hänge, geschieferte Häuser. Von Meschede machen wir den Abstecher hinauf zum Hennesee. Zwei Radler darauf! „Eine nette Tour“, sagt Andrea, „aber halt typisch Sauerland.“ Erst später wird uns klar: Die Ruhr haben wir bisher gar nicht mit dem Sauerland verknüpft.

Arnsberg bis Hagen, 65 km

Es heißt Sauerland, aber ruhriger als Arnsberg wird’s nimmer – keine andere Stadt schmiegt sich so eng an diesen Fluss, der sich seinerseits schützend in zwei Schleifen legt.  Prallhang und Gassenwinkel, Fachwerk und Adelshöfe, hier müssen wir einfach mal zur Schlossruine emporstrampeln. Es ist ein bedeckter Tag, aber: Arnsberg!

Der Fluss sprudelt gebirgig blau in seinem renaturierten Bett. Reiher über der Aue. Inseln aus entwurzelten Bäumen, Krone in das Wasser, Ballen in die Höh’. Doch schnell rückt der Weg bei Hüsten an die A 46 heran. Wenigstens optisch ist es ja recht idyllisch unter der Lärmschutzwand. „Müssen wir hier schon über den Fluss?“ – „Keine Ahnung, die Straße geradeaus sieht nicht nach Radweg aus.“ Dieser ist zwar überwiegend, aber nicht durchgehend gut beschildert. Ein Kartenhalter wäre hilfreich, so funktioniert die Navigation per Smartphone schneller – auch wenn das Rumgefummel manchmal nervt.

Neheim, „Stadt der Leuchten“. Und immer wieder diese typischen Sauerländer Gewerbestreifen: Werkzeugbarone, Heftzweckenherzöge und Lampenkönige. Im Sauerland sitzt vermutlich mehr Industrie als im Revier. Zumindest pro Kopf.

An der Mündung der Möhne  lädt eine „Sinnesstation zum Verweilen“ ein, soll eine „freudige Verbindung zur Natur fördern“, so die Infotafel. Aber direkt unter einem Autobahnzubringer? „Guck mal, da machen die Spaziergänger echt ein Selfie!“

Bis Schwerte geht es meist durch die Aue, wir kreuzen die Ruhr nur hier und da. Interessant aber all die Wehre: Kaum ein anderer Fluss in Europa muss im Verhältnis zu seiner Größe so viele Menschen und ein solches Industriezentrum mit Wasser versorgen. Der Preis: Die Ruhr ist ein Mittelgebirgsfluss ohne jede Dynamik. 

Hagen bis Essen, 63 km

„Da möchte man fast noch mal zur Schule gehen!“, ruft Andrea. Wir sausen vorbei am Friedrich-Harkort-Gymnasium in Herdecke: direkt am Fluss, ein Skatepark hängt auch noch dran. So viele Ruhrkilometer hat das Revier, so viel Platz ist noch da für das normale Leben, toll . . . Aber noch mal zur Schule?

Was man dort hätte lernen können: Der Osten des Westens ist Harkort-Land, geprägt von Friedrich Harkort, dem Eisenbahnpionier und Sozialreformer, der bereits 1820 eine Betriebskrankenkasse gründete. Der Harkortsee, das Ruhr-Viadukt in Herdecke (von 1879) für seine Eisenbahn. Und die Burgruine Wetter, der er seine Dampfmaschinenfabrik aufpfropfte. Zu sehen ist sie nicht mehr, aber vielleicht wird eben hier die Ruhr zu dem Fluss, der den Ruhrgebietsbewohnern ihre Geschichte flüstert.

Andrea sagt: „Das größte Industriedenkmal ist doch die Ruhr selbst.“ Gleich neben der Zeche Nachtigall erinnert uns die Burgruine Hardenstein, dass die Ruhr auch echte Sagen kennt: „Wer schmatzt denn hier?“, wurde der Ritter Neveling vor über 600 Jahren gefragt. – „Na, mein Kumpel, der unsichtbare Zwergenkönig Goldemar!“ Worauf ein vorwitziger Küchenjunge dem Zwerg mit Mehl eine Falle stellen wollte – und dafür im Kochtopf landete. Der Abstecher in die Hattinger Altstadt mit ihren 150 Fachwerkhäusern ist ein Muss, und sei es nur für eine Pizza. Und . . . nach einem unheimlich schönen Stück Ruhr der Baldeneysee mit dem noch schöneren Biergarten vorm „Haus am See“.

Essen bis Duisburg, 38 km

Kaum lassen wir das Dröhnen der Flugzeuge über Kettwig hinter uns, wird die Ruhrtalbrücke über Mintard sinnlich erlebbar. Aber wo sonst findet man solch bizarre Kontraste: Das hübscheste Fachwerkdorf, Pferde in der Aue und hoch über ihnen, wie aus einem Science-Fiction-Film von 1966 herausmontiert: der „Highway to Rheinland“.

Auf der anderen Ruhrseite könnte man stracks über den Leinpfad fahren, auf dem früher Pferde die Kähne flussauf zogen. Aber die Mülheimer Aue mit ihren Rohrkolben, Eschen und Schwarz-Erlen ist schon ein sehenswerter „vielfältiger Biotopkomplex“. Ach, viel zu viele Infotafeln sind von Bürokraten geschrieben.

Der Mülheimer Hafen: eine Miniatur gegen den Duisburger mit seinen Silos, Kränen, Schrott- und Kohlebergen. Und wie zur Einstimmung auf diesen letzten Landschaftswechsel wird die Aue nun rauer, struppiger, wirken die Brücken funktioneller, und hinter dem Aquarius-Turm überkommt uns kurz Dankbarkeit, dass die Wegplaner es nicht versäumt haben, uns wenigstens ein kleines Stück entlang der A 40 zu führen. „Damit ist der Eindruck endlich komplett!“, ruft Andrea. Aber sie meint es nun ganz anders.

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