Ganz klar – ich bin der Exot unter den Teilnehmern. Das Greenhorn. Ein Exil-Schwabe, der den „Kohlenpott“ bis dato nur von Bildern und aus den Medien kennt. Schimanski und seine verwegenen Einsätze im Revier lassen grüßen! Nun will ich das Ruhrgebiet aus der Nähe sehen – und mit ihm eine der schillerndsten Firmen und Familien in der deutschen Industriegeschichte. Krupp – ein Name wie Donnerhall.
Also nehme ich teil an der Tour de Krupp, einer von Tour de Ruhr veranstalteten Busfahrt in die Vergangenheit und die Gegenwart der Firma und der Menschen, die sie geprägt haben und von ihr geprägt wurden.
„Pott-Anfänger? Dann sind Sie bei mir richtig“, schmunzelt Reiseleiter Christoph Wilmer. Der Historiker stammt aus Essen, gehört zu den Experten zum Thema Krupp und kennt das Revier wie seine Westentasche.
Mit dem typischen Charme der Industriestandorte im 19. Jahrhundert empfängt uns die Einfahrt in die „Kruppsche Gussstahlfabrik“ in Essen. Rasch öffnet sich der Raum, und der Blick auf das repräsentative neue „Quartier“ des heutigen Weltkonzerns ThyssenKrupp tut sich auf, dessen Mittelpunkt der modern gestaltete Kubus „Q1“ bildet.
Sichtlich beeindruckt von dem neuen Ensemble der Quartiergebäude ist Günter Marwinsky. Der heute 83-Jährige gehört zu den altgedienten „Kruppianern“. Von 1956 bis 1990 war er bei der Firma beschäftigt und hat Industrieanlagen in die Sowjetunion, China und Korea verkauft.
Von den hohen Brücken, die im Innern geradezu in der Höhe zu schweben scheinen, bieten sich faszinierende Aussichten durch die Glasfront bis zur Kokerei Prosper in Bottrop und zur Arena auf Schalke.
Auf der Autobahn geht es nach Duisburg, auf den Alsumer Berg. Kurioserweise eine alte Müllhalde, die heute einer der beliebtesten Aussichtsberge des Ruhrgebiets ist. Von dort bietet sich ein imposanter Blick auf die riesenhaften Anlagen von ThyssenKrupp und die Kokerei Schwelgern. Ich staune nicht schlecht, als eine riesige weiße Wolke aus dem Ablöschturm unterhalb steigt. 90 Kubikmeter Wasser kühlen den frischen, fast 1000 Grad heißen Koks, der gerade in die Anlage gefahren wurde. Eine unwirkliche, doch faszinierende Szene.
Völlig verwandelt hat sich der Kruppsche Standort in Duisburg-Rheinhausen, wo 1897 zum ersten Mal Stahl produziert wurde. Heute hingegen ist das Areal einer der größten Logistikstandorte Europas. Ich war noch Jugendlicher, als die Arbeitskämpfe die Medien beherrschten. Rheinhausen war DER Inbegriff der deutschen Stahlindustrie. Als der Standort 1987 geschlossen werden sollte, gipfelten die Auseinandersetzungen gar in der Sperrung von Brücken und der Besetzung der Villa Hügel. 1993 schließlich erloschen die Hochöfen endgültig. Es ist jedoch eine gewisse Industrieromantik, die der Standort noch heute verströmt, auch wenn die eigentlichen Anlagen längst abgerissen sind. Heute zeugen die Direktorenvillen und das benachbarte Casino von der Stahlwirtschaft auf dem Gelände.
Tag zwei der Tour steht ganz im Zeichen der Familie Krupp. Die Fahrt geht unter anderem zur Villa Hügel und führt auf den Friedhof in Bredeney. Die letzte Ruhestätte der Krupp-Familienmitglieder wird von dem großen Sarkophag Alfred Krupps dominiert. Die Grabstätten haben sich allerdings nicht immer hier befunden, wie Wilmer erläutert. Mehrmals mussten sie der Stadtplanung weichen.
Am Ende der Tour steht eine tiefe Einsicht in das Phänomen Ruhrgebiet und in eine Familiengeschichte, die das Revier entscheidend geprägt hat. Ein Einblick in eine der faszinierendsten Regionen Europas. Und der endgültige Wandel eines persönlichen Klischees zum Positiven.
200 Jahre Krupp im Wandel der Zeit
1811: Der Anfang
1587 werden die Krupps in Essen das erste Mal erwähnt. Am 20. November 1811 gründet Friedrich Krupp in Essen eine Gussstahlfabrik.
1812: Die Zukunft
Alfred Krupp wird am 26.4.1812 geboren. Im selben Jahr werden der Schmelzbau und ein Hammerwerk an der Walkmühle in Altenessen errichtet.
1817: Die Qualität
Die Königliche Münze in Düsseldorf bestätigt die Qualität des Kruppschen Stahls. Krupp produziert Münzstempel, Walzen und Werkzeuge.
1835: Die erste Dampfmaschine
Alfred Krupp bestellt die erste Dampfmaschine für die Gussstahlfabrik.
1836: Die Krankenkasse
Auf freiwilliger Basis wird eine Kasse für Krankheits- und Sterbefälle gegründet.
1841: Die erste Auslandsvertretung
In Paris erhält die erste ständige Auslandsvertretung der Firma ihren Sitz.
1843: Das Besteck
Alfred Krupp entwickelt gemeinsam mit seinen Brüdern Hermann und Friedrich ein serienreifes Besteckwalzwerk.
1844: Die Goldmedaille
Auf der Berliner Gewerbeausstellung erhält Krupp für seine Produkte die Goldmedaille.
1846: Die Eisenbahn
Die Firma beginnt mit der Herstellung von Eisenbahnachsen und -federn. Den ersten Großauftrag erteilt 1849 die Köln-Mindener Eisenbahn: 2400 Trag- und 400 Stoßfedern.
1848: Die Revolution
Alfred Krupp wird Alleininhaber der Gussstahlfabrik. Während der Revolution von 1848/49 lässt er das Familiensilber einschmelzen.
1851: Die Weltausstellung
Auf der ersten Weltausstellung in London erhält Krupp die „Council Medal“, den höchsten Preis.
1853: Die Familie
Alfred Krupp heiratet Bertha Eichhoff aus Köln. Am 17. Februar 1854 wird Friedrich Alfred Krupp geboren.
1854: Das Patent
Alfred Krupp erhält ein amerikanisches Patent auf seine nahtlosen Eisenbahnradreifen. Der Schienenverkehr wird mit diesen Reifen sicherer und schneller.
1857: Die Mitarbeiter
Die Belegschaft des Unternehmens übersteigt erstmals die Marke von 1.000 Beschäftigten.
1859: Die Rüstungsproduktion
Beginn der Rüstungsproduktion in größerem Maßstab: 300 Geschützrohr-blöcke werden vom preußischen Kriegsministerium bestellt.
1861: Das Visuelle
In diesem Jahr wird die Fotoabteilung des Unternehmens gegründet. Große Werkspanoramen entstehen.
1861: Der Dampfhammer
Der von Alfred Krupp entworfene Dampfhammer „Fritz“ mit 1000 Zentnern Fallgewicht wird in Betrieb genommen.
1862: Der Stahl
Krupp baut das erste Bessemer-Stahlwerk auf dem Kontinent. Es ermöglicht Massenproduktion und Schienenherstellung.
1863: Die Siedlung
Die Werkssiedlung „Westend“ entsteht am südlichen Rand des Fabrikgeländes. Sie besteht aus 136 Wohneinheiten.
1868: Der Konsum
Der drei Jahre zuvor von Werksangehörigen gegründete Arbeiter-Konsumverein wird von der Firma übernommen und zur Konsumanstalt.
1869: Die Technologie
Der erste Siemens-Martin-Stahlofen in Deutschland wird auf der Gussstahlfabrik in Betrieb genommen.
1870: Das Krankenhaus
Die Kruppschen Krankenanstalten entstehen als Lazarett für Verwundete im deutsch-französischen Krieg.
1872: Das Grundgesetz
Das „Generalregulativ“ regelt Pflichten und Rechte der Mitarbeiter und legt Grundzüge der Geschäftsführung und der betrieblichen Sozialpolitik dar.
1872: Die Expansion
Die Steinkohlenzeche „Hannover“ in Bochum und die Johanneshütte in Duisburg werden erworben.
1873: Die Villa
1873 wird die Villa Hügel fertig gestellt. Das neue Domizil der Krupps hat 269 Zimmer.
1875: Die Marke
Drei übereinander gelegte nahtlose Eisenbahnradreifen werden vom Königlichen Kreisgericht in Essen als Wort/Bildmarke der Firma Krupp eingetragen.
1875: Die Frauen
Krupp gründet zwei Industrieschulen. Hier können Frauen und schulpflichtige Mädchen Handarbeiten für häusliche oder berufliche Zwecke lernen.
1883: Die Forschung
Mit der Errichtung eines zweiten Chemischen Laboratoriums durch Friedrich Alfred Krupp beginnt die wissenschaftlich orientierte Stahlforschung.
1886: Der Besuch
Der chinesische Vizekönig Li Hong-Zhang stattet dem deutschen Unternehmen einen Besuch ab.
1890: Die Stipendien
Gründung der Krupp-Stipendien-Stiftung. Die Stipendien werden für begabte Söhne der Mitarbeiter ausgelobt für eine bessere technische Ausbildung.
1892: Die Übernahme
Krupp übernimmt per Betriebsüberlassungsvertrag das Grusonwerk in Magdeburg.
1893: Die Erfindung
Rudolf Diesel, MAN und Krupp beschließen in einem Konsortialvertrag, Diesels Erfindung auszuwerten, um einen Dieselmotor zu entwickeln.
1896: Die Hütte
Für die neue Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen werden zunächst drei Hochöfen, ein Hafen, ein Wasserwerk und Werksbahnanlagen geplant.
1896: Die Werft
Krupp übernimmt am 19. August die Germaniawerft in Kiel.
1896: Der Kaiser
Kaiser Wilhelm II. besucht am 27. Oktober Krupp.
1899: Die Bücher
Die Kruppsche Bücherhalle wird eröffnet, und der Kruppsche Bildungsverein entsteht.
1902: Das U-Boot
Bau des ersten deutschen Versuchs-U-Bootes „Forelle“ auf der Kruppschen Germaniawerft.
1903: Die Aktiengesellschaft
Am 30. Juni wird die Firma Fried. Krupp in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Bertha Krupp ist Eigentümerin.
1905: Die Geschichte
Im Juni wird die „Geschichtliche Abteilung“ als erstes Unternehmensarchiv Deutschlands gegründet.
1906: Die Hochzeit
Bertha Krupp heiratet den Diplomaten Gustav von Bohlen und Halbach.
1906: Die Margarethenhöhe
Aus Anlass der Heirat ihrer Tochter stiftet Margarethe Krupp Land und finanzielle Mittel zum Bau der Siedlung Margarethenhöhe.
1912: Das Patent
Die nichtrostenden säure- und hitzebeständigen Chrom-Nickel-Stähle aus den Krupp-Laboratorien werden patentiert („Nirosta“).
1912: Das Fest
Im August wird das 100-jährige Bestehen der Firma Krupp unter Anwesenheit von Kaiser Wilhelm II. gefeiert.
1914: Das Geschütz
Die „Dicke Berta“ kommt im Ersten Weltkrieg zum Einsatz.
1919: Die Lokomotive
Krupp entwickelt seine ersten Lastkraftwagen. Zugleich wird am 6. Dezember die erste in Essen gebaute Lokomotive ausgeliefert.
1926: Der Werkstoff
Unter dem Namen WIDIA bringt Krupp ein gesintertes Hartmetall auf den Markt, das sich als Werkstoff für Werkzeuge hervorragend eignet.
1928: Die Schmiedepresse
Krupp baut in Essen-Borbeck die damals größte Schmiedepresse der Welt mit 15.000 t Presskraft.
1939: Der Krieg
Krupp ist Teil der Kriegswirtschaft des NS-Regimes.
1940: Die Zerstörung
Beginn der Luftangriffe auf die Gussstahlfabrik. Am Ende sind über 30 % der Essener Werke zerstört.
1943: Die Firma
Die Fried. Krupp AG wird per Erlass Hitlers in eine Einzelfirma umgewandelt. Der Inhaber heißt nun Alfried Krupp von Bohlen und Halbach.
1948: Das Urteil
Ein amerik. Militärgericht verurteilt Alfried Krupp u. a. wegen der Zwangsarbeiterbeschäftigung zu zwölf Jahren Haft und Vermögensbeschlagnahme.
1951: Die Freilassung
Der amerikanische Hochkommissar John McCloy begnadigt Alfried Krupp. Er wird am 3. Februar aus der Haft entlassen.
1953: Die Vollmacht
Berthold Beitz wird Generalbevollmächtigter von Alfried Krupp von Bohlen und Halbach.
1953: Die Ausstellung
In der Villa Hügel, die seit 1945 nicht mehr als Wohnsitz der Familie genutzt wird, wird die erste Kunstausstellung gezeigt.
1953: Der Vertrag
Die indische Regierung und die Firma Krupp unterzeichnen einen Vertrag über den Bau eines Hüttenwerks im indischen Rourkela.
1958: Der Osthandel
Krupp nimmt erstmals an der Posener Messe teil, Berthold Beitz reist auf Einladung des Ministerpräsidenten Mikojan in die Sowjetunion.
1960: Die Tauchkugel
J. Piccard und D. Walsh erreichen mit einer von Krupp hergestellten Tauchkugel als Erste den tiefsten Punkt des Meeres, ca. 11.000 m unter dem Meeresspiegel.
1961: Das Ausland
Das brasilianische Werk Krupp Metalúrgica Campo Limpo wird eingeweiht. Es stellt vor allem Kurbelwellen und Achsen für den Automobilbau her.
1963: Der Empfang
Der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow empfängt Berthold Beitz in Moskau.
1967: Die Umwandlung
Alfried Krupp gibt bekannt, die Firma in eine Kapitalgesellschaft umzuwandeln. Die Anteile sollen von einer gemeinnützigen Stiftung gehalten werden.
1968: Die Stiftung
Die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung nimmt ihre Arbeit auf.
1971: Das Radioteleskop
Das seinerzeit größte bewegliche Radioteleskop der Welt wird in Effelsberg in der Eifel in Betrieb genommen.
1972: Das Dach
Krupp Industrie- und Stahlbau errichtet das Dach des Olympiastadions in München.
1973: Die Begegnung
An der Spitze einer deutschen Wirtschaftsdelegation trifft Berthold Beitz den chinesischen Ministerpräsidenten Chou Enlai.
1976: Die Beteiligung
Der Staat Iran beteiligt sich mit 25,01 % am Stammkapital der Fried. Krupp GmbH. 2003 wird diese Beteiligung auf unter 5 % zurückgeführt.
1987: Der Protest
Die Stilllegung des Hüttenwerks in Rheinhausen wird beschlossen. Die Beschäftigten demonstrieren mit zahlreichen Aktionen.
1992: Die Mehrheit
Krupp erwirbt 1991 die Mehrheit an der Hoesch AG in Dortmund. Per Verschmelzung wird 1992 die Fried. Krupp AG Hoesch-Krupp gegründet.
1999: Die Fusion
Die Thyssen AG und die Fried. Krupp AG Hoesch-Krupp fusionieren zur ThyssenKrupp AG.
2010: Die Kunst
Eröffnung des von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung finanzierten Neubaus des Museum Folkwang in Essen.
2010: Das Quartier
Das ThyssenKrupp Quartier wird am 17. Juni in Essen eröffnet. Der Konzern verlegt seinen
Hauptsitz von Düsseldorf nach Essen.
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