Lüdenscheid. .

„Solidarität allein reicht nicht aus“, sagt Gemeindevorsitzender Hasan Ayibogan. Die Lüdenscheider Aleviten haben 1300 Euro gesammelt und auf das Konto eines Freundes überwiesen. Davon sollen Nahrungsmittel und Getränke für die Menschen gekauft werden, die in Zelten im Gezi-Park ausharrten, damit Erdogan seine Pläne nicht verwirklichen kann: die Errichtung eines gigantischen Nachbaus einer osmanischen Kaserne – genutzt als Einkaufszentrum mit Museum.

Aber es geht längst nicht mehr um dubiose Baupläne. Die hat ein Gericht in Istanbul sowieso schon gekippt, angeblich vor einem Monat, bekanntgeworden ist es aber erst am Mittwoch. Es geht um den Umgang der Regierung und der Polizei mit Menschen, die ihre demokratischen Rechte einfordern – und die dafür mit Tränengas und Wasserwerfern verfolgt werden.

Das bringt den Lüdenscheider Özgür Türkmen, Student der Betriebswirtschaft und Jugendvorstand der Gemeinde, in Rage. Er gehört zu den Initiatoren der Hilfsaktionen der heimischen Aleviten. „Erdogan macht Glaubenspolitik, er zerstört den Laizismus“, also die strikte Trennung von Kirche und Staat. Das ist die politische Dimension. „Eine Bekannte von mir war sieben Tage fast ohne Essen im Gefängnis.“ Das ist die menschliche Seite, da wird’s persönlich.

Aleviten sind in der Türkei nicht als Glaubensgemeinschaft anerkannt und fühlen sich diskriminiert. Özgür Türkmen sagt: „Wir fragen nicht nach Herkunft oder Religion, wir glauben an die Menschenrechte und daran, dass jeder mit Respekt behandelt werden soll.“ Diese Liberalität sei es, die sie von der Mehrheit der türkischen Sunniten und ihrer islamisch-konservativen Regierungspartei AKP abgrenzt.

Die Lüdenscheider Aleviten wollen weiter Geld sammeln, für die Untersuchung und Behandlung von Verletzten in der Türkei. Die Kanäle laufen heiß: Twitter, Facebook, Youtube, die junge Generation der Gemeinde ist besonders aktiv.

Die Fäden laufen zusammen bei Türkmen und der Lüdenscheiderin Duygu Aydogan, Studentin der Wirtschaftspsychologie und Mitglied im NRW-Landesvorstand der Aleviten. Sie berichtet von der Teilnahme ihrer Gemeinde an der Großdemo auf dem Kölner Heumarkt, mit mehr als 60 000 Teilnehmern. Und von der Mahnwache im Zeltlager auf dem Ebert-Platz in Köln vor zwei Wochen. Es ist wieder nicht nur menschliche Betroffenheit, sondern politischer Protest. Duygu Aydogan sagt: „Erdogan baut Moscheen und Brücken und Kasernen. Er würde besser Schulen und Krankenhäuser bauen!“

Darüber unterhält sich die Gemeindejugend Am Grünewald. Und über die Geschichte der Aleviten. Und über deren Stellung in der Türkei. Und über den 2. Juli 1993. Es geschah in Sivas. Ein alevitisches Kulturfestival im Madimak-Hotel wurde zum Ziel von Angriffen eines „islamistischen Mobs“, wie Özgür Türkmen sagt. 35 Menschen, unter ihnen linke Intellektuelle, Schriftsteller, Dichter und Künstler alevitischen Glaubens kamen ums Leben. Die Brandstifter seien nicht verurteilt worden. Duygu sagt: „Ein Gericht entschied, dass die Tat verjährt sei.“

Die jungen Aleviten hatten für Dienstag Am Grünewald eine Gedenkfeier organisiert. Sie zündeten 35 Kerzen an und verlasen 35 Namen. Es war ein Akt der Menschlichkeit – und des politischen Bewusstseins.