Dorsten-Holsterhausen. . Als es am Sonntag in einer Wohnung an der Apostelstiege in Dorsten brennt, zögert Pascal Grinat keine Sekunde. Der schmalgebaute 19-Jährige klettert auf den Balkon im vierten Obergeschoss, um den kleinen Kai (6) zu retten. Wie der Nachbar zum Lebensretter wurde.

Als der Lebensretter am Dienstagvormittag die Tür öffnet, schmerzt seine linke Hand noch ein wenig. Pascal Grinat zeigt auf die Kratzspuren. „Hier, genau hier“, sagt er. „Hier hat sich der Kleine festgekrallt, er wollte doch nicht springen, er hatte Angst.“

Pascal ist nicht gerade ein Kerl wie ein Baum. Der 19-Jährige ist schmal gebaut, bringt keine 60 Kilo auf die Waage. Stark ist er dennoch. Denn seit Sonntag ist Pascal Grinat das, was nur ganz wenige Menschen von sich behaupten können: ein Lebensretter. Pascal rettet seinen sechsjährigen Nachbarsjungen.

Andreas Fischer, Leiter der Dorstener Feuerwehr, bestätigt im Gespräch mit der WAZ: „Ich weiß nicht, ob er Junge noch leben würde, wenn Pascal nicht so schnell eingegriffen hätte.“

Auf der Querverbindung gestanden

Es ist Sonntagnachmittag, so gegen kurz nach drei Uhr, als Pascals Verlobte aus dem Küchenfenster schaut und Rauch entdeckt. Im Nachbarhaus an der Apostelstiege brennt es. Pascal verlässt sofort das Haus. Er läuft in den Garten, schaut nach oben. Aus dem Kinderzimmer des Mehrfamilienhauses schlagen Flammen, der Dachstuhl brennt.

Dorstener Lebensretter ist zurzeit arbeitssuchend

Pascal Grinat ist in Essen geboren, zog vor gut sechs Jahren gemeinsam mit seinen Eltern nach Dorsten. In seiner Wohnung in Holsterhausen fühlt er sich wohl. Er ist verlobt und Vater seiner einjährigen Tochter Emily.

Der 19-Jährige ist derzeit arbeitssuchend und wünscht sich nichts mehr, als wieder eine Anstellung zu finden. Zuletzt war er für eine Zeitarbeitsfirma beschäftigt, arbeitete einige Zeit als Lagerist bei der DHL. „Ich mache eigentlich alles Handwerkliche sehr gerne, bin vielseitig einsetzbar und passe mich schnell an“, sagt er. Pascal Grinat: „Vielleicht habe ich ja auch mal Glück.“

Auf dem Balkon steht ein kleiner Junge. Sein Name ist Kai. Pascal kennt den Sechsjährigen ganz gut. Kai schaut durch einen Schlitz des Balkongeländers. Er sagt nichts.

Pascal zögert keine Sekunde, zieht die Schnürsenkel seiner Turnschuhe noch kurz fest und klettert dann am Regenrohr rauf. Etage für Etage. Bis ins vierte Obergeschoss. Etwa Rund zwölf Meter über dem Boden.

Auf einer Querverbindung bleibt er stehen, umfasst mit der linken Hand das Regenrohr, mit der rechten hält er sich am Geländer fest. Immer wieder ruft er in Richtung des Nachbarsjungen: „Komm aus dem Rauch raus. Halt’ dir das T-Shirt bloß vor den Mund.“ Kai ist kreidebleich, er hat Ruß auf der Stirn.

„Er hat gewimmert und gesagt, ich soll ihm helfen und ihn nach unten bringen“, berichtet Pascal. Der Dorstener hievt sich mit einem Ruck auf den Balkon, den Zustand des kleinen Jungen beschreibt er als „immer schlechter.“ Pascal nimmt Kai erst auf den Arm, hält ihn dann über das Balkongeländer. „So 40 bis 50 Sekunden“, schätzt er.

„Er hat geschrien, er hat sich richtig an mir festgekrallt“

Die ersten Feuerwehrautos sind gerade eingetroffen, ein Sprungpolster wird rasch aufgebaut. Doch es dauert eben noch. Pascal erkundigt sich bei Kai nach der Mutter. Der Sechsjährige sagt, dass sie in der Küche war. Und auch noch ein weiteres Kind.

Das Sprungpolster ist endlich aufgebaut, Pascal hat Mühe, den Kleinen abzuwerfen. Kai will nicht loslassen. „Er hat geschrien, er hat sich richtig an mir festgekrallt“, erklärt der Lebensretter. Doch der wohl lebensrettende Sprung gelingt.

Pascal dreht sich zur Wohnung um, ruft nach der Mutter des Jungen. Keine Reaktion. Die Feuerwehrmänner fordern ihn auf, ebenfalls zu springen. Doch er wählt den Weg zurück über das Regenrohr.

Dieser Weg kennt er, weil sich Kais Mutter kürzlich mal ausgesperrt hat. Da holte Pascal den Haustürschlüssel durchs Balkonfenster. Im Krankenhaus wird bei ihm ein Erschöpfungszustand diagnostiziert. Der ganze Körper steht am Abend noch unter Spannung, die Magenschmerzen kommen von der Aufregung. Der Lebensretter schläft in der Nacht „nicht anders als sonst.“ Er fühlt sich auch nicht anders als sonst. Der Vater einer einjährigen Tochter ist sich sicher: „Ich würde es sofort wieder tun!“

Zweijähriger Junge ist außer Lebensgefahr 

Am Montag gab es gute Nachrichten. Dem zweijährigen Jungen, den die Feuerwehr aus der brennenden Wohnung rettete, geht es schon besser. Er ist außer Lebensgefahr. Das Kleinkind hatte Rauchgas eingeatmet und wurde am Sonntag in eine Spezialklinik nach Aachen geflogen.

Auch aus der Klinik in Enschede, in der die 43-jährige Frau behandelt wird, gab es nach Aussage der Feuerwehr Positives zu berichten. Ihr Zustand sei zwar noch nicht stabil, ihre Überlebenschance liege aber bei 80 Prozent.

Die Polizei berichtet, dass die Brandursache noch unklar ist. Ein Sachverständiger wurde eingeschaltet. Der Sachschaden wird auf rund 200 000 Euro beziffert. Eva-Maria Wagner, Wohnungsverwalterin des Mehrfamilienhauses, war am Montagvormittag vor Ort und empfing zahlreiche Handwerker. So funktionierte am Montag auch die Stromversorgung wieder, die Bewohner konnten zurück in ihre Wohnungen.