Essen. . 1500 Dinge und Dokumente aus 200 Firmenjahren: „Ein Mythos wird besichtigt“ – im Ruhrmuseum auf Zollverein
Ein mördergroßes, 700 Kilo schweres Geschoss der „Dicken Berta“ verbreitet mehr als Respekt. Ein handschriftlicher Zettel von Arndt Krupp von Bohlen und Halbach, dem der letzte Krupp sein Jahresbudget kalkulierte, weckt eher Neid, angesichts der vielen sechsstelligen Zahlen. Aber er hatte echte Sorgen ums Geld, die Tasten des Taschenrechners daneben sind abgenutzt — Arndt führte ja nicht nur ein ausschweifendes Jet-Set-Leben, er spendete auch gern und viel.
Aber eigentlich geht es in der neuen großen Sonderausstellung des Essener Ruhrmuseums nicht um solche Dinge, sondern um den „Mythos Krupp“. Und Zwangsarbeiter gehören nunmal nicht zum Mythos. So kommen sie allenfalls hinten im Katalog vor, in einer Statistik des Jahres 1943, in dem mehr als jeder vierte der 200.000 Krupp-Beschäftigten Zwangsarbeiter war.
Den Mythos Krupp spiegelt das Ruhrmuseum in drei Erzählsträngen: Es geht um den Stahl von Krupp und seine Produkte, vom nahtlosen Radreifen und der Feldkanone mit Lafette über die Olympiafackeln von 1936 und 1972 bis hin zum Coil, ein meterdicker Zylinder aus gewalztem Stahlband von heute, für den angesichts eines Gewichts von 25 Tonnen, in der Ausstellung eine Attrappe herhalten muss.
Es geht zum zweiten um die Familiengeschichte der Krupps, die jahrhundertelang angesehene, wohlhabende Kaufleute in Essen waren, bevor zunächst Friedrich Krupp mit seiner Gussstahlfabrik Anfang des 19. Jahrhunderts ein Vermögen in den Sand setzte und sein Sohn Alfred Krupp dann einen Weltkonzern daraus machte.
Und es geht zum dritten um die „Kruppianer“, die sich immer als Elite unter den Arbeitern im Revier fühlen durften, etwas besser bezahlt und seit Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr mit einer Rundum-Sozialfürsorge an die Firma gebunden: Vom werkseigenen „Konsum“ (zuletzt sogar mit eigenen Plastiktüten) über Krupp-Krankenhäuser (mit eigenen Stramplern) bis zu ganzen Siedlungen und der goldenen Uhr zum Betriebsjubiläum (elf verschiedene Modelle zeigt die Ausstellung).
Das allseits Bekannte verbindet sich hier mit der Erkenntnis, dass man so auch die sozialen Fliehkräfte im Einwandererland Ruhrgebiet dämpfte. Auch wenn es sich bei den echten Kruppianern, wie Museumsdirektor Theodor Heinrich Grütter betont, immer nur um die kleine Gruppe der Stammarbeiter handelte.
Überhaupt: „Fast alle Klischees über Krupp stimmen nicht,“ hat Grütter in den drei Jahren, in denen man an der Ausstellung arbeitete, festgestellt. Das gelte auch für die angeblich kalte Familienatmosphäre auf Villa Hügel, wo die Kinder Sprechstunden bei ihren Eltern hatte: „Filmaufnahmen zeigen aber, dass das eine ganz normale Familie mit herzlichen Gesten war.“
Kaiser von Brasilien
Die Ausstellung zeigt über 1500 Exponate von der Registrierkasse über Stahlbesteck bis zur den Holzlederschuhen eines Hochofenarbeiters. Sie bietet gut drei Stunden Filmmaterial, zum Teil unveröffentlichtes. Mehr als die Hälfte der Ausstellungsstücke stammt aus dem Krupp-Archiv.
Und wie schon auf der großen Jubiläumsschau des vergangenen Jahres in der Villa Hügel gibt es viele Fotos zu sehen, vor allem von Staatsbesuchen bei Krupp, vom preußischen König Wilhelm I. 1861 über Wilhelm II. noch zwei Monate vor seiner Abdankung 1918 und Hitler bis zum den Kaisern von Brasilien, Äthiopien, dem Schah von Persien (schon 1889), japanischen Prinzen, türkischen Ministern und dem König von Ägypten.
Fotos von Arbeitern gibt es auch, doch schon die Villa-Hügel-Ausstellung zeigte ja, wie sorgfältig sie inszeniert waren. Wer sich die Arbeitsbedingungen bei Krupp ausmalen will, wie der Alltag in den Fabriken aussah oder das Leben eines ganz normalen Arbeiters dort, der bleibt trotz der vielen, sorgfältig zusammengetragenen und gekonnt präsentierten Details dieser Ausstellung auf seine Phantasie angewiesen.