Duisburg. . Die Opfer der Loveparade sollen nun schnell entschädigt werden, darauf einigten sich die Stadt Duisburg und die Axa-Versicherung. Doch der seelische Schaden der Opfer ist immens. Wie der Fall des Wolfgang Locke zeigt.

In seinen guten Zeiten montierte er Einbauküchen in halb Europa, heute auf Sardinien, nächste Woche in Südfrankreich. 39 Jahre machte er diesen Job, war selten krank und nie arbeitslos. Wenn er heute davon redet, klingt das wie aus einem anderen Leben. Denn jener Tag im Juli 2010 hat alles verändert, der Tag der Duisburger Loveparade. Diese Bilder rauben ihm den Schlaf. Denn der 54-Jährige fürchtet, auf einem Menschen gestanden, ihn verletzt oder getötet zu haben.

Wolfgang Locke ist eines von mehreren hundert Opfern der Loveparade. Angehörige von Toten, schwer verletzte und traumatisierte Menschen. Am Freitag nun, acht Wochen vor dem Jahrestag der Katastrophe, bei der 21 Menschen ums Leben kamen, haben sich die Stadt Duisburg und Axa, die Versicherung des Veranstalters Lopavent, auf eine außergerichtliche Entschädigung der Opfer geeinigt. Die Höhe der Beträge sei noch unklar, die Axa jedenfalls soll Rückstellungen in Höhe von zehn Millionen Euro gebildet haben. Angestoßen hatte die Verhandlungen die Düsseldorfer Anwaltskanzlei Baum-Reiter, die 75 Opfer vertritt. „Das ist ein Zwischenerfolg. Wir kritisieren jedoch, dass die Vereinbarung ohne Mitwirkung der Opfer zustande gekommen und das Land NRW nicht beteiligt ist.“ Die Anwälte bevorzugen eine öffentlich-rechtliche Stiftung, in der den Opfern ein Mitspracherecht eingeräumt wird.

Wir treffen Wolfgang Locke auf halber Strecke zwischen jetzt und morgen. Noch lebt er in Düren, doch an diesem Vormittag ist er unterwegs nach Mecklenburg-Vorpommern, wohin er bald umziehen möchte, zu Verwandten. Der Mann ist zum Frührentner geworden, traumatisiert, schwerbehindert und unfähig, mehr als drei Stunden täglich zu arbeiten. Zehn Monate nach der Loveparade lebt er „vom Amt“, wie er das nennt.

In Gedanken wieder im Tunnel

Dabei hatte er gedacht, mit seinen Erlebnissen ganz gut fertig zu werden. Nach zwei, drei Wochen jedoch begannen die Probleme. Er konnte nicht mehr schlafen, wälzte sich hin und her, in Gedanken wieder im Tunnel. Schließlich scheiterte er bei einem Besuch auf dem Markt. „Ich sah die Menschen, bekam einen Weinkrampf und begann zu zittern. Danach war mir klar: Etwas ist nicht in Ordnung mit Dir!“

Es ist schlicht Neugier gewesen, die ihn vor bald einem Jahr nach Duisburg trieb. In den Tunnel, in die Menge, die immer enger und dichter wird. Ein Mädchen vor ihm, 16 oder 17 Jahre mag sie sein, bekommt zusehends Angst, beginnt zu schreien. „Zweimal ist sie weggesackt, bewusstlos geworden. Ich habe sie gehalten, ihr Mut gemacht.“

Irgendwann schickt er selbst Stoßgebete: „Wenn es Dich da oben gibt, hol mich hier raus!“ Der Druck, er wird unerträglich, er kommt in Wellen. Locke steht bei der Rampe, kann sehen, wie Menschen an der Treppe hochgezogen werden. Nach unten zu blicken, ist unmöglich. Er spürt unter seinem Fuß etwas Hohes, Weiches, ein-, zweimal verliert er selbst das Bewusstsein. Wie eine Ewigkeit kommt ihm alles vor, bis die Masse sich aus ihrer Bedrängnis löst, ganz als ob „jemand den Korken von einer Sektflasche gezogen hätte“.

„Bei der Polizei hat man mir gesagt, im Tunnel sei niemand gestorben“, sagt Locke. Später habe er gehört, auch von dort seien Verletzte oder Tote zur Sammelstelle getragen worden. Locke wird diese Last nicht los. Er nimmt Schlaftabletten, lässt sich in zwei Kliniken einweisen, will „einfach nur zur Ruhe kommen, endlich mal wieder schlafen!“

Doch das, was er „die Kopfkirmes“ nennt, hört einfach nicht auf. Locke kann sich nicht konzentrieren, weiß am Ende eines gelesenen Satzes nicht mehr, wie er angefangen hat. Noch hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, setzt darauf, dass er irgendwann sein Leben „wieder in den Griff bekommt und nicht mehr wie ein Bittsteller vom Amt abhängig ist“. 589 Euro haben er und seine Frau zum Leben. Halb so viel wie vor der Katastrophe.

Der Druck nahm zu

„Bis die Schuldfrage juristisch geklärt ist, können Jahre vergehen“, wiederholt Rechtsanwalt Julius Reiter sein Plädoyer für eine Entkopplung von Schuld und Entschädigung. Hat nun dieses Argument gewirkt oder der öffentliche Druck? Die rot-rot-grüne Opposition in Duisburg hatte erst vor wenigen Tagen die Stadtspitze zu einer schnelleren Einigung aufgefordert. Und so wirkte der umstrittene Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) abermals wie ein Getriebener, als er am Freitag versprach, „jeden der Höhe nach begründeten Schadenersatzanspruch nun abschließend und zügig zu regulieren“. Ob dies Wolfgang Locke hilft – man wird sehen.

Trauer in Duisburg

Was am Ende übrig bleibt: ein rotes Stoffherz, das auf dem Boden liegt. 21 Menschen werden es später sein, die ...
Was am Ende übrig bleibt: ein rotes Stoffherz, das auf dem Boden liegt. 21 Menschen werden es später sein, die ... © ddp
... beim Unglück von Duisbug ihr Leben lassen mussten. Die Parade der Liebe endet ...
... beim Unglück von Duisbug ihr Leben lassen mussten. Die Parade der Liebe endet ... © ddp
... trifft das Unglück bis ins Mark. Die Party hatte die größte sein sollen, ...
... trifft das Unglück bis ins Mark. Die Party hatte die größte sein sollen, ...
... die dort jemals gefeiert wurde. Stattdessen wird sie zur Todesfalle. Das Kopfsteinpflaster des kargen Geländes wird auf ewig verbrannte Erde sein. Am Tag, ...
... die dort jemals gefeiert wurde. Stattdessen wird sie zur Todesfalle. Das Kopfsteinpflaster des kargen Geländes wird auf ewig verbrannte Erde sein. Am Tag, ... © ddp
... nach dem das Unfassbare Wirklichkeit geworden ist, kehren die Menschen zurück an den Ort des Geschehens. Ganz so,...
... nach dem das Unfassbare Wirklichkeit geworden ist, kehren die Menschen zurück an den Ort des Geschehens. Ganz so,... © ddp
... als könne die Unglücksstätte selbst eine Erklärung liefern. Wie nur hatte das passieren können? Der dunkle Karl-Lehr-Tunnel...
... als könne die Unglücksstätte selbst eine Erklärung liefern. Wie nur hatte das passieren können? Der dunkle Karl-Lehr-Tunnel... © Markus Joosten / WAZ FotoPool
... wird zum Sinnbild der allerletzten Loveparade. Am Tag eins danach ...
... wird zum Sinnbild der allerletzten Loveparade. Am Tag eins danach ... © Markus Joosten / WAZ FotoPool
... geben die Behörden den Tunnel für die Trauernden frei. Die Menschen zünden Kerzen an, ...
... geben die Behörden den Tunnel für die Trauernden frei. Die Menschen zünden Kerzen an, ... © APN
... legen Blumen im Gedenken an die Verstorbenen nieder und schreiben ihre Gefühle auf Karten, die sie dazu stecken. Seinen Schrecken kann...
... legen Blumen im Gedenken an die Verstorbenen nieder und schreiben ihre Gefühle auf Karten, die sie dazu stecken. Seinen Schrecken kann... © ddp
... dieser düstere Ort allein durch die Lichter nicht verlieren. Aber vielen hilft es, dort zu sein, sich selbst ein Bild zu machen. Vom Tunnel, von der Rampe und ...
... dieser düstere Ort allein durch die Lichter nicht verlieren. Aber vielen hilft es, dort zu sein, sich selbst ein Bild zu machen. Vom Tunnel, von der Rampe und ... © Markus Joosten / WAZ FotoPool
... von den schmalen rettenden Aufgängen, die manche erst zu spät erreichten. Ihr Tod...
... von den schmalen rettenden Aufgängen, die manche erst zu spät erreichten. Ihr Tod... © ddp
... soll nicht vergessen werden:
... soll nicht vergessen werden: "Wir sind in Gedanken bei euch und bei allen, ... © ddp
... die ihr zurückgelassen habt
... die ihr zurückgelassen habt", sagen die © Markus Joosten / WAZ FotoPool
... Dutzenden von Kerzen, die nach und nach das Gelände des Güterbahnhofs...
... Dutzenden von Kerzen, die nach und nach das Gelände des Güterbahnhofs... © Markus Joosten / WAZ FotoPool
...und den Karl-Lehr-Tunnel in ein warmes Rotlicht tauchen. Ihre Anteilnahme...
...und den Karl-Lehr-Tunnel in ein warmes Rotlicht tauchen. Ihre Anteilnahme... © Markus Joosten / WAZ FotoPool
... schreiben viele -
... schreiben viele - "Rest in Peace", ruhet in Frieden. Was ist mehr zu sagen,... © Markus Joosten / WAZ FotoPool
... wenn junge Menschen ihr Leben lassen, weil Politik und Verwaltung eine Veranstaltung genehmigen, die in der Form niemals hätte in Duisburg stattfinden dürfen? Die Bilder...
... wenn junge Menschen ihr Leben lassen, weil Politik und Verwaltung eine Veranstaltung genehmigen, die in der Form niemals hätte in Duisburg stattfinden dürfen? Die Bilder... © ddp
... der Trauernden von Duisburg berühren ganz Deutschland. Sie ...
... der Trauernden von Duisburg berühren ganz Deutschland. Sie ... © Markus Joosten / WAZ FotoPool
... gehen um die Welt. Nicht nur Deutsche sind gestorben. Weitere Opfer kommen aus Australien, den Niederlanden, ...
... gehen um die Welt. Nicht nur Deutsche sind gestorben. Weitere Opfer kommen aus Australien, den Niederlanden, ... © APN
...gilt das Beleid der Trauernden. Mit Blumen und Grablichtern verleihen sie ihrem Mitgefühl Ausdruck. Eine Skulptur...
...gilt das Beleid der Trauernden. Mit Blumen und Grablichtern verleihen sie ihrem Mitgefühl Ausdruck. Eine Skulptur... © ddp
... aus Eis steht zwei Tage nach dem Umglück vor dem Karl-Lehr-Tunnel.
... aus Eis steht zwei Tage nach dem Umglück vor dem Karl-Lehr-Tunnel. "In tiefer Trauer" ist in den Quader eingraviert. Aus den vereinzelten... © ddp
... Kerzen ist inzwischen ein regelrechtes Lichtermeer geworden. Hunderte Menschen kommen in den Tunnel. Vielen hilft es, nicht allein zu sein. Sie fassen sich an den Händen,...
... Kerzen ist inzwischen ein regelrechtes Lichtermeer geworden. Hunderte Menschen kommen in den Tunnel. Vielen hilft es, nicht allein zu sein. Sie fassen sich an den Händen,... © ddp
....halten einander fest und umarmen sich. Noch immer ist für die meisten kaum fassbar, ...
....halten einander fest und umarmen sich. Noch immer ist für die meisten kaum fassbar, ... © ddp
... dass junge Menschen unter der Last anderer Menschen gestorben sein sollen, dass sie nicht mehr da sind, ...
... dass junge Menschen unter der Last anderer Menschen gestorben sein sollen, dass sie nicht mehr da sind, ... © ddp
... und nicht mehr zurückkehren. Der Schock sitzt tief, nicht nur...
... und nicht mehr zurückkehren. Der Schock sitzt tief, nicht nur... © ddp
... bei den Angehörigen der Opfer und bei den Besuchern der Parade: Ganz Duisburg hat die Katastrophe getroffen. Unbeteiligte fühlen mit den Betroffenen mit. Das Unglück...
... bei den Angehörigen der Opfer und bei den Besuchern der Parade: Ganz Duisburg hat die Katastrophe getroffen. Unbeteiligte fühlen mit den Betroffenen mit. Das Unglück... © ddp
... kann niemanden kalt lassen.
... kann niemanden kalt lassen. "Deutschland... © ddp
... trauert um euch
... trauert um euch" steht auf einem Deutschlandschal, den jemand vor Kerzen und Blumengestecken ausgebreitet hat. In die Trauer der Menschen... © ddp
... dass ihr Kind starb, weil - so nehmen es viele an - das Streben nach Prestige und Profit stärker war als das nach Vernunft und Sicherheit? Die Stadt...
... dass ihr Kind starb, weil - so nehmen es viele an - das Streben nach Prestige und Profit stärker war als das nach Vernunft und Sicherheit? Die Stadt... © ddp
... solle sich schämen, schreibt jemand auf eine Karte.
... solle sich schämen, schreibt jemand auf eine Karte. "Warum habt ihr uns das angetan?" steht... © ddp
... auf einem Stein, der inmitten des Kerzenmeeres liegt. Die Frage ist unterschrieben mit
... auf einem Stein, der inmitten des Kerzenmeeres liegt. Die Frage ist unterschrieben mit "eine Mutter". Noch Tage nach der Katastrophe zünden Trauernde... © ddp
... Lichter an und bringen frische Blumensträuße in den Karl-Lehr-Tunnel. Ein Turnschuh...
... Lichter an und bringen frische Blumensträuße in den Karl-Lehr-Tunnel. Ein Turnschuh... © WAZ Foto Pool
... liegt zwischen den Blumen. Viele Loveparade-Besucher hatten während der Massenpanik an der Rampe ihre Schuhe verloren. Im Karl-Lehr-Tunnel...
... liegt zwischen den Blumen. Viele Loveparade-Besucher hatten während der Massenpanik an der Rampe ihre Schuhe verloren. Im Karl-Lehr-Tunnel... © ddp
... tragen sich hunderte Trauernde in ein Kondolenzbuch ein. Sie schreiben ihre Gefühle nieder...
... tragen sich hunderte Trauernde in ein Kondolenzbuch ein. Sie schreiben ihre Gefühle nieder... © ddp
... und versuchen in Worte zu fassen, was die Loveparade-Katastrophe angerichtet hat. 21 Tote, 500 Verletzte, unzählige Trauernde: Der 24. Juli 2010...
... und versuchen in Worte zu fassen, was die Loveparade-Katastrophe angerichtet hat. 21 Tote, 500 Verletzte, unzählige Trauernde: Der 24. Juli 2010... © ddp
... ist ein schwarzer Tag für Duisburg. Nach ihm, so steht es auf einem Banner über dem Tunneleingang, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. 21 Kreuze, ...
... ist ein schwarzer Tag für Duisburg. Nach ihm, so steht es auf einem Banner über dem Tunneleingang, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. 21 Kreuze, ... © ddp
... die für die 21 Toten stehen - sind an der Unglücksstelle vor dem alten Güterbahnhof angebracht.
... die für die 21 Toten stehen - sind an der Unglücksstelle vor dem alten Güterbahnhof angebracht. "Unschuldig gestorben" ist auf dem Längsbalken des großen Kreuzes zu lesen. Es ist diese unglaubliche Tragödie, die... © ddp
... die Menschen so zahlreich an die Unglücksstelle zieht. Auch Tage nach dem Unglück bleibt die Anteilnahme überwältigend. Es ist eine Frage, die...
... die Menschen so zahlreich an die Unglücksstelle zieht. Auch Tage nach dem Unglück bleibt die Anteilnahme überwältigend. Es ist eine Frage, die... © ddp
... am Ende übrig bleibt und alle Trauernden eint: Warum mussten 21 Menschen sterben?
... am Ende übrig bleibt und alle Trauernden eint: Warum mussten 21 Menschen sterben? © ddp
Warum?
Warum? © WAZ Foto Pool
1/40