Dorsten. .

Thomas Raufeisen war ein ganz normaler Teenager. Er ging zum Gymnasium in Hannover, lebte mit Eltern und Bruder so, wie viele andere Jugendliche auch. Nichts Aufregendes, nichts Besonderes. Durchschnitt.

Bis zum 22. Januar 1978. Da erklärte Vater Armin der Familie, der Großvater, wohnhaft in der damaligen DDR, läge im Sterben. Die Familie müsse zu ihm fahren, um Abschied zu nehmen. Heute - und so auch gestern auf Initiative des Trägervereins Altes Rathaus vor den 13-Klässlern des Petrinums - nennt Raufeisen diesen Tag einen Schicksalstag. „Der Tag, an dem ich entführt wurde.“

Zunächst ahnen Thomas und sein Bruder Michael noch nichts von dem, was da auf sie zukommen würde. „Wir haben uns keine weiteren Gedanken gemacht“, gibt der 49-Jährige zu. Nicht darüber, dass sie ohne Visum die Grenze passieren dürfen, nicht darüber, dass der Vater unterwegs anhält, um zu telefonieren. Nicht darüber, dass sie plötzlich in Ost-Berlin in einem Einfamilienhaus landen. „Erst als wir von meinem Vater hereingerufen wurden, bei ihm saßen zwei Männer, da wurde uns klar, da ist was“, schildert Thomas Raufeisen. Und was da ist: Der Vater offenbart sich als DDR-Spion. Nennt sich selbst „Kundschafter des Friedens“. Als solcher hatte der Geologe bei seinem Arbeitgeber, der Preussag, jahrelang für die Stasi gekundschaftet. Nun stand er kurz davor, aufzufliegen und verhaftet zu werden. Er musste fliehen. Mitsamt der teils ahnungslosen Familie. „Meine Mutter hatte Jahre zuvor zufällig erfahren, dass mein Vater spionierte. Sie hat immer wieder gesagt, er solle aufhören. Aber bei solch einem Verein wie der Stasi kann man nicht einfach kündigen“, lacht Thomas Raufeisen bitter.

Der Jugendliche mit westlicher Denkweise findet sich plötzlich in einem fremden Regime wieder. In einem, das er nicht kennt, das er ablehnt. Sein Bruder Michael rebelliert. Da er - bereits volljährig - die Annahme der DDR-Staatsbürgerschaft standhaft verweigert, darf er ausreisen. Thomas - damals 16 - muss bleiben. „Mein Vater wurde mir schlagartig fremd. Er hatte uns jahrelang betrogen“, schildert Raufeisen seine Gefühle.

Der Junge kommt auf ein Gymnasium in Berlin-Lichtenberg, soll da sein Abitur machen: „Eine düstere Schule. Die Aula jahrzehntelang nach Kriegsende noch immer zerbombt und unbenutzbar. Ich war als Sohn eines Spions isoliert, hatte keine Freunde.“ Die militärische Schulerziehung, das andere Umfeld - mit dem kommt Thomas Raufeisen nicht zurecht: „Wir bekamen das volle Programm ab.“. Er bricht das Gymnasium ab, beginnt eine Kfz-Schlosser-Lehre. Die Familie droht mehr und mehr zu zerbrechen, denn auch Vater Armin fühlt sich inzwischen vom sozialistische n System betrogen, wird überwacht. Fluchtgedanken mehren sich, Fluchtpläne werden geschmiedet, Kontakte zu Geheimdiensten geknüpft. Aber alle Versuche, zurück in den Westen zu gelangen, scheitern. Schließlich will der Vater über die Ostsee schwimmen. Doch dazu kommt es nicht. Die Stasi erfährt von den Plänen, verhaftet Mutter, Vater und Sohn. Alle drei kommen für Jahre in Haft.

Verlorene Jahre, die Thomas Raufeisen bis heute aufarbeitet. In Vorlesungen, als Biografie („Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei“), als Referent für politische Bildung, als Zeitzeuge, dessen Geschichte gestern sogar taffe Abiturienten zu nachdenklichen und aufmerksamen Zuhörern macht.