Dorsten/Raesfeld. . Die kleine Gemeinde: Wohlhabend und schuldenfrei. Raesfeld will nicht „die Zeche für andere zahlen“, sagt Bürgermeister Andreas Grotendorst. Die Mittelstadt: Pleite am Rande der Überschuldung – Dorstens Bürgermeister Lambert Lütkenhorst hält dagegen.
Die kleine Gemeinde: Wohlhabend und schuldenfrei. Sie will nicht „die Zeche für andere zahlen“, sagt Raesfelds Bürgermeister Andreas Grotendorst. Die Mittelstadt: Pleite am Rande der Überschuldung, strukturell unterfinanziert – „und die Frage muss erlaubt sein, ob Gemeinden wie Raesfeld nicht seit Jahren überfinanziert werden“, hält Dorstens Bürgermeister Lambert Lütkenhorst dagegen. Ein Streitgespräch. Am Ende mit einer gemeinsamen Botschaft: „Wir müssen die Systemfrage stellen. Eigentlich gehört hier der NRW-Innenminister Ralf Jäger mit an den Tisch“, so Grotendorst.
Herr Lütkenhorst, das reiche Raesfeld will nicht „die Zeche zahlen“ für arme Städte wie Dorsten . . .
Grotendorst: Einspruch. Dorsten mag arm sein, aber dass wir reich sind, stimmt nicht.
Lütkenhorst: Einigen wir uns darauf, dass es Raesfeld besser geht. Aber wir kommen tatsächlich an eine Grundfrage von kommunaler Solidarität. Die Kernfrage ist, wie wir Unterschiede zwischen den Städten möglichst gerecht ausgleichen. Und da muss die Frage erlaubt sein, ob Raesfeld nicht seit Jahren überfinanziert wird. Bei den Landeszuweisungen fängt es damit an, dass die Gemeinde so gestellt wird, als ob sie 25 000 Einwohner hat. Es gibt darunter keine Zwischenstufen. Raesfeld hat deutlich geringere Soziallasten und das ist ja auch gut so. Aber dann muss die Gemeinde auch weniger Geld bekommen. Dass NRW die Sozialquoten bei der Berechnung von Zuweisungen jetzt anpasst, ist für uns absolut richtig. Die Konsequenzen sind für andere – auch für Raesfeld – bitter.
Grotendorst: Da muss ich widersprechen. Wir waren nicht überfinanziert. Wir haben sparsam gewirtschaftet. Unsere Verwaltung hat den engsten Personalkörper in NRW und die niedrigsten Personalkosten pro Einwohner. Der Ausgleich der Soziallasten ist OK – aber das Ausmaß ist nicht OK, dass es jetzt für eine Bedarfsgemeinschaft so viel Geld gibt wie für 9,6 (zuvor 3,9) Einwohner bei einem Grundbetrag von 605 Euro. Wenn das so bleibt, müssen wir ja zusehen, dass wir Leistungsempfänger nach Raesfeld bekommen. Wir erhalten in diesem Jahr 1,2 Mio Euro weniger vom Land als 2010 und haben damit ein Defizit von 2,2 Mio bei 16 Mio Euro Jahresumsatz.
Dass einige und immer mehr Städte weniger einnehmen als ausgeben – daran hat man sich fast gewöhnt. In Raesfeld überrascht das.
Grotendorst: Wenn eine Gemeinde seit fast 18 Jahren schuldenfrei ist und ihren Haushalt nicht mehr ausgleichen kann, dann ist das System nicht in Ordnung. An der Einnahmenseite können wir nicht viel drehen – auch wenn wir gerade über Steuererhöhungen nachdenken müssen. Eigentlich gehört hier der Innenminister mit an den Tisch, denn das muss man dem Land klarmachen: Die Kommunen brauchen insgesamt mehr Geld. Dem Land stände es gut zu, selbst über Personaleinsparungen nachzudenken oder über weniger Projektförderungen und eigene Investitionen, um mehr Geld für die Gemeinden zu haben. Denn wenn sich unser Defizit bei ein bis zwei Millionen Euro jährlich einpendelt, dann fährt die Karre mit voller Wucht gegen die Wand. Wir müssen die Systemfrage stellen.
Die wird in Dorsten schon lange gestellt . . .
Lütkenhorst: Ja, die System- und die Strukturfrage. Richtig ist: Das Land gehört bei diesem Gespräch eigentlich mit an den Tisch. Mit der Berücksichtigung unterschiedlicher Soziallasten ist das Problem ja nicht gelöst. Und da wird’s an einer Stelle pervers: Wir bekommen zwar etwas mehr Geld, aber das wird dem Kreis abgezogen und der holt es sich per Umlage bei uns wieder. Unterm Strich kriegen wir so 300 000 Euro weniger.
Das Land sagt gern, die Städte haben Geld verschwendet und sparen nicht genug . . .
Lütkenhorst: Die Ruhrgebietsstädte haben mit Geld rumgesaut? Diese Diskussion führe ich nicht mehr. Wir in Dorsten haben gut 300 Mio Euro Schulden, davon 168 Mio Euro Kassenkredite – also das überzogene Konto – weil wir seit 1993 unseren Haushalt nicht mehr ausgleichen können. In der gleichen Zeit haben wir, finanziert durch Kredite, 60 Mio Euro Soli für den Osten bezahlt und 60 Mio Euro für die Unterbringung von Asylbewerbern. Da haben uns Bund und Land im Stich gelassen. Zugleich sind wir bei unserem Personal nach dem Abbau von 150 Stellen an der Minimalquote angekommen. Nach der Schröder-Steuerreform sank unsere Gewerbesteuer auf unter Null. Da war die Hundesteuer unsere beste Einnahme.
Wenn wir die Dorstener Verhältnisse auf Raesfeld übertragen – dann hätte die Gemeinde jetzt 37 Mio Euro Schulden.
Grotendorst: Mit so großen Minuszahlen können und wollen wir gar nicht umgehen.
Höhere Steuern und Gebühren, weniger Leistungen – bekommen die Raesfelder bald zu spüren, was in Dorsten längst Alltag ist?
Grotendorst: Beim Thema Gemeindefinanzen interessieren den Bürger meistens nur zwei Dinge: Steuererhöhungen und Kürzungen bei Leistungen fürs Ehrenamt. Wenn ein Verein ein neues Heim baut für 300 000 Euro, dann haben wir früher die Kosten zur Hälfte übernommen. Das geht nicht mehr. Das ist ein Schlag ins Gesicht des Ehrenamtes und das Ehrenamt ist ein Markenzeichen für Raesfeld. Das muss man dem Land klarmachen. Aber sollen wir dem Musikverein die 25 % Zuschuss für die neue Trompete streichen? Wenn sich am Finanzierungssystem nichts ändert, dann kommt es darauf auch nicht mehr an.
Lütkenhorst: Toll! Über solche Fragen sind wir längst weg. Es gibt in Dorsten keinen Verein mehr, der von uns Geld bekommt. Wir machen hier eine Sportlerehrung, die müssen die Sportler selbst bezahlen. Und den Aufbau der Bühnenelemente stellen wir denen noch in Rechnung. Eines stimmt: Die Bürger verstehen die Nöte nicht. Wir haben keinen Euro. Nicht einen. Wir sind am Ende. Und wenn wir Steuern erhöhen, tun wir das nicht, um mit dem Geld etwas zu machen. Das Geld ist weg. Das geht in den Schuldensack. Raesfeld könnte Steuererhöhungen ja noch erklären. Ich würde Ihnen gerne mal unsere Schulen zeigen, was wir dort investieren müssen und was wir aus eigenen Mitteln dafür ausgeben können . . .
Grotendorst: Und ich würde dazu gerne das halbe Dorf mitbringen, damit unsere Bürger sehen, dass es sich lohnt, zu sparen.
Durch die Finanzwächter der Kommunalaufsicht sind manche Bürgermeister schon nicht mehr Herr im eigenen Haus. Dorsten etwa muss sich im Prinzip jede Ausgabe über 60 Euro genehmigen lassen . . .
Grotendorst: Und an anderer Stelle greift die Aufsicht nicht ein, obwohl sie müsste. Essen steht das Wasser bis zum Hals und die Stadt will 25 Millionen Euro für ein Stadion ausgeben. Für solche Luxusdinge haben die Bürger kein Verständnis. Und dass so ein Stadion keine freiwillige Leistung ist, muss mir erst mal jemand erklären.
Wie kommen die Städte aus der Krise?
Lütkenhorst: Wir sitzen alle in einem Boot. Wenn wir wollen, dass die Selbstverwaltung der Städte wieder oder weiter funktioniert, muss jeder seinen Beitrag leisten, damit die Verhältnisse wieder gerade gerückt werden. Die Reichen werden dazu beitragen und die Armen müssen auch was tun, es muss deutlich gespart werden. Ich wundere mich manchmal in unserer Region, wie gut es einigen Städten anscheinend noch geht. Die Umlagesystematik in den Kreisen ist pervers. Land und Bund müssen mehr Geld bereit stellen. Was macht eigentlich die Schäuble-Kommission? Für die gerade dramatisch steigende Zahl von Asylbewerbern gibt es für die Städte keinen Euro zusätzlich. Dass Kommunen Ost-Soli zahlen, bleibt ein Skandal. Und: Die Soziallasten müssen gerecht ausgeglichen werden. Aber für Solidarität unter den Städten gibt es keine Mehrheit im Parlament.
Grotendorst: Solidarität ist OK. Aber sie muss gerecht sein. Sparen darf nicht heißen, dass wir in Raesfeld den Gürtel bis zum letzten Loch zuschnallen und andere Städte nur bis zum ersten. Raesfeld müsste für die Schuldenfreiheit eigentlich einen Bonus bekommen.
Lütkenhorst: Wir haben noch gar nicht über Schuldenabbau gesprochen. Wenn die Zinsen zum Beispiel um 0,5 % mehr steigen, bedeutet das für uns Millionen an Mehrbelastung.
Grotendorst: Wenn nicht Politik und Verwaltung gemeinsam das Problem der weiteren Neuverschuldung ernsthaft angehen, wird es sich vermutlich nur über eine Inflation lösen. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Das ist aus meiner Sicht aber in keiner Weise akzeptabel.