Münster. .
Die Prokrastination, im Volksmund Aufschieberitis, ist ein Phänomen, das wohl die meisten Menschen kennen. Weit häufiger als gedacht steckt dahinter jedoch eine ernstzunehmende psychologische Störung.
Erst seit einigen Jahren widmen sich Psychologen dem Thema. Ihre Forschungsobjekte sitzen in den Hörsälen der Universitäten. Wer selbst einmal studiert hat, weiß: Wenn eine Studentenbude blitzblank geputzt ist, ist das das sichere Zeichen einer bevorstehenden Prüfung oder Hausarbeit. Lieber putzen als lernen, lautet die Devise, das Staubtuch scheint allemal das kleinere Übel zu sein. Je nach Studie sind zehn bis zwanzig Prozent aller Studenten regelmäßige Aufschieber.
Keine Zeit für unangenehme Aufgaben
Sich mit irgendwelchen Dingen zu beschäftigen gehört zum Verhaltensmuster des Prokrastinierens. Nur so können Betroffene sich selbst einreden, dass sie für die unangenehme, verschobene Aufgabe keine Zeit hatten – oder dass sie am nächsten Tag eben doppelt so viel arbeiten werden.
„Die meisten Betroffenen glauben das wirklich“, erklärt Fred Rist, Psychologe an der Universität Münster. Ihnen fehle die konkrete Vorstellung davon, wie sie die anstehende Arbeit umsetzen wollen. „Das kann man aber wieder lernen“, sagt Rist, der in Münster die bundesweit wohl einzige Prokrastinationsambulanz für Studenten eingerichtet hat. „Wir zeigen den Studenten auch, wie sie erfolgreich planen können“, so der Psychologe. Denn nach Jahren des Scheiterns hätten krankhafte Aufschieber regelrecht Angst davor, überhaupt noch Pläne zu machen.
Wie ein Mensch zum Aufschieber wird, darüber gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. „An dem Thema wird kaum geforscht, weil es – wie auch das Burnout-Syndrom – keine anerkannte Störung ist“, bedauert Rist. Er vermutet, dass viele Betroffene in der Kindheit nicht gelernt haben, unangenehme Aufgaben als Weg zu einer größeren Belohnung zu akzeptieren. Prokrastination als Symptom eines Aufmerksamkeitsdefizits zu verstehen, wie manche Kollegen es tun, könne nicht alle Fälle erklären, die ihm begegnet sind, so Rists Begründung. In einer Forschungskooperation will er zeigen, dass auch Schüler bei ihren Hausaufgaben prokrastinieren. Welche zusätzliche Rolle neurologische Faktoren, also die erbliche Veranlagung spielen, sei bislang unbekannt.
Betroffene brauchen Hilfe
Klar hingegen ist Rists Antwort auf die Frage, wann die Aufschieberitis eine Störung ist und Betroffene Hilfe suchen sollten: „Wenn man ein Problem damit hat, nichts mehr hinzubekommen.“ Die Website der Prokrastinationsambulanz bietet zudem die Möglichkeit zu testen, wie ernst die eigene Aufschieberitis ist und ob man womöglich dadurch depressionsgefährdet ist. Krankhaften Aufschiebern empfiehlt Rist den Besuch beim Verhaltenstherapeuten.
Alleine bekämen Betroffene das Problem ebenso wenig in den Griff wie durch motivierende Worte von Freunden. „Das wäre ungefähr so wie einem Depressiven zu raten, einfach mal fröhlich zu sein“, sagt Joe Ferrari, Psychologe an der DePaul University in Chicago und einer der wenigen, die das Thema seit Jahren untersuchen. Ferrari glaubt, dass das Aufschieben für viele ein Schutz ist, eventuell minderwertige Arbeitsergebnisse zu vermeiden: „Besser die anderen glauben, es habe an Anstrengung gemangelt statt an Fähigkeit.“ In Studien fand Ferrari heraus, dass Frauen und Männer etwa gleich häufig zum Aufschieben neigen. Außerdem empfiehlt er, dass die Gesellschaft häufiger Pünktlichkeit belohnen statt Verspätungen bestrafen solle, weil der psychologische Effekt nachweislich stärker sei: „Wir geben dem frühen Vogel zu selten seinen Wurm.“