Dorsten.
„Lass meinen Gang in Deinem Wort fest sein und lass kein Unrecht über mich herrschen“.
Mit diesem beziehungsreichen Psalm präsentiert sich die Homepage der Pfarrgemeinde St. Agatha, die zu einem Abend mit besonderer Brisanz eingeladen hatte.
Kirchenvorstand Dr. Wolfgang Schröder betonte in seiner kurzen Begrüßungsrede denn auch, dass er sich nach rückhaltloser Aufklärung der Missbrauchsfälle den Blick nach vorne wünscht. Damit traf er das Anliegen von Dr. Hans Döink, der als Leiter der Kommission für Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker im Bistum Münster, einen genauen Report lieferte.
Wichtig ist die Betrachtung der Zusammensetzung dieser Kommission, die sich mit Fällen aus dem Zeitraum von 1948 bis 2001 und mit aktuellen Fällen aus den Folgejahren auseinanderzusetzen hatte. „Ich habe gleich zu Anfang betont, dass ich nur für eine schonungslose Arbeit bereitstehe, die Sachkompetenz und Unabhängigkeit repräsentiert“, sagte Dr. Döink, der übrigens als Regens Pfarrer Ulrich Franke von St. Agatha seit seiner Zeit am Priesterseminar Münster kennt.
In der Tat kommt die Kommission höchst weltlich daher: zwei pensionierte weibliche Hauptkommissare, eine der beiden evangelisch, ein Diplom-Psychologe mit Schwerpunkt Sexualtherapie und der Leitende Oberstaatsanwalt. Das liest sich wie die Besetzung eines Kriminalfilms: „Die Unbestechlichen“.
Aus den Erfahrungen Dr. Hans Döinks, dessen Telefonnummer zur Missbrauchs-Hotline wurde, ergibt sich allerdings eher der Titel „Die Unerschütterlichen“.
„Es ging und geht bis an die Grenze des Erträglichen“, sagte Dr. Döink, der schonungslos aber ohne Details berichtete. „Wie sehr Menschen unter den Taten leiden, ist unermesslich. Für unsere Arbeit stand immer der Opferschutz im Mittelpunkt.“
Die rund 40 Zuhörer merkten wohl, dass selbst dieser erfahrene Seelsorger an Grenzen seiner Leidensfähigkeit gestoßen sein musste. So hatte sich die Kommission mit 56 konkreten Fällen aus dem Zeitraum 1948 bis 2001 zu befassen. In 27 Fällen konnte nicht mehr ermittelt werden, da die Beschuldigten bereits verstorben sind.
In 29 Fällen wurde ermittelt, davon sind 23 abgeschlossen. In sechs Fällen laufen die Ermittlungen noch. Dabei reichen die Misshandlungen von verbalem Missbrauch bis hin zu pädophilen Taten. „Die ganze Palette der Abscheulichkeiten“, so Dr. Döink, „die oftmals das Leben der Opfer auf eine schiefe Bahn gebracht haben.“
In vielen Fällen waren die Gespräche mit ihm nach Jahrzehnten die ersten über den Missbrauch. Diese Gespräche seien oft von erschütterndem Inhalt gewesen, so Dr. Döink. Weitere Zahlen aus dem Bericht stimmen nachdenklich: 32 Meldungen wurden abgegeben, von denen etliche an andere Zuständigkeiten weitergeleitet wurden.
Insgesamt waren 106 Opfer betroffen. Davon überwog mit 84 Opfern die Zahl der männlichen Betroffenen. Auch zwölf Erwachsene und 22 Mädchen waren Ziel der Verbrechen. Das sind rund 60 Täter unter 4000 Priester. Eine Zahl, die schaudern lässt.
Was passiert mit den Betroffenen? Den Opfern wurden Therapien angeboten, die in vielen Fällen angenommen wurden. Etliche wünschten keinerlei Handlungen. Die Tatverdächtigen wurden intensiv vernommen und die Ermittlungsakten wurden freiwillig an die Staatsanwaltschaft und an die kirchliche Hierarchie übergeben. Strafrechtlich steht vielen Ermittlungen die Verjährung im Weg. Kirchenrechtlich wurde bis hin zum Kirchenausschluss eine ganze Palette möglicher Strafen angewandt.
Was muss sich ändern? „Wenn es eine heilige Kirche gibt, dann gibt es auch eine sündige Kirche“, sagte Hans Döink leidenschaftlich. „Die Zeiten der Selbsterhöhung müssen vorbei sein – denn das schafft Fallhöhen.“ Diese „Absturzangst“, so der Priester weiter, „verhindert den Blick auf die Realität. Das Männerbündische in der Priesterausbildung muss ausgerottet werden.“
In der St. Agatha-Gemeinde schärfte Dr. Döink den Blick für das Problem. Bester Beweis war die lebhafte Diskussion der Anwesenden mit dem Fahnder in Gottes Namen. „Seid wachsam“ , lautete sein Schlusswort.