Halver. .
Wie kann dieser Mann nur ruhig schlafen? Sein Kopf ist angefüllt mit Geschichten von Lug und Trug, von Ungerechtigkeit und Hinterlist, von Mord und Totschlag, von Krieg und Gewalt. Er kennt sich aus mit den Unbilden dieser Welt, ist fassungslos oder ärgerlich, süffisant oder zynisch.
Und muss sich immer wieder selbst die Zügel anlegen: „Was reg’ ich mich auf?“ Wie also kann Hagen Rether, geschniegelter Künstler, wortgewandter Kabarettist und scharfzüngiger Analyst, wie kann er ruhig schlafen? Vielleicht, indem er – wie jetzt in Halver – die Bühne benutzt, um sein Leid zu teilen oder auch, um das Elend mitzuteilen, was vielen derart detailliert nicht bekannt ist. Das jedenfalls macht er brillant, wenn er dabei auch damit nervt, dass er zeitgleich den Flügel auf der Bühne putzt.
Putzen als Ablenkung
vor bitterer Wahrheit
Dieses Putzen erscheint als Marotte. „Ich kann’s nicht leiden, wenn’s so staubig ist“, entschuldigt er sich, während er Reiniger versprüht und mit Mikrofaser wienert. Doch vielleicht ist dies mehr als nur der Zwang eines deutschen Mr. Monk. Denn könnte man sich als Zuschauer nicht ab und an durchs Säubern des Instruments ablenken lassen, so wären rund drei Stunden Rether’scher Kost in der AFG-Aula kaum zu ertragen. Allzu sanft, mit fast unerträglich angenehmer Stimme und ohne diese zu erheben, erzählt der schlanke, bezopfte, hakennasige Mann im feinen Zwirn von Priestern, die ob ihrer Gräueltaten an Kindern nicht gejagt, sondern nur in die Nachbarpfarrei versetzt werden, parliert über Roland Koch und dessen Spendenaffäre, nennt ihn „Brandstifter, der eine Macht im Rücken hat, die ihn seit Jahren davor schützt, Anstand zu haben“.
Rether weiß, dass ein einziger Kanonenschuss eines Panzers so viel kostet wie ein KiTa-Platz für ein Jahr und er hält die Ackermanns, Zumwinkels und Mehdorns für Strohpuppen, die regelmäßig öffentlich abgewatscht werden, um das Volk ruhig und bei Laune zu halten. – Und es funktioniert, wie traurig. „Ist nicht lustig“, straft der Scharfzüngige sein lachendes Publikum von der Bühne herunter deshalb ab. Recht hat er, aber seine Besucher lachen aus demselben Grund, aus dem er putzt: Ablenkung von der bitteren Wahrheit. Ansonsten müsste man ja aufstehen, das Wort erheben, demonstrieren gegen Kriege, die erst seit kurzem auch offiziell mit diesem Begriff versehen werden, die Volkesmacht beweisen gegen die Korruption neuer deutscher Regierung, durch die sich das Wort Demokratie neu definiert: „Man darf sich aussuchen, wer einen verarscht.“
Auf zynische Texte
folgt schmusige Musik
Da ist ihm ein Lafontaine lieber. Merkwürdig, dass dem vorgeworfen wird, ein Machtmensch zu sein, wenn er doch auf dem Machthöhepunkt seinen Rücktritt erklärt hat. Merkwürdig, dass dem vorgeworfen wird, ein Populist zu sein. „Sind sie doch alle, auch Barack Obama, zum Glück. Sonst wäre der jetzt nicht da, wo er ist.“ Merkwürdig, dass dem als Linken vorgeworfen wird, reich zu sein: „Reich und links? Das ist doch ebenso selten wie ehrenwert.“
Doch bevor ein falsches Bild entstehen könnte, wiegelt Rether ab: „Nicht, dass mir Lafo sympathischer ist als die anderen Schmierlappen da oben. Wir hätten unsere jetzige Situation nur früher und billiger haben können. Lafo hat schon vor zehn Jahren gesagt, was er jetzt immer noch sagt, nämlich, dass er das schon immer gesagt hat.“
Ja, Rether zu verstehen, das verlangt manchmal mehr als einen Groschen zu haben. Zehn gefallene Pfennige könnten zu wenig sein. Zum Glück kann der Kabarettist den Flügel nicht nur putzen, sondern auch spielen. Beim Bach’schen Präludium Nr. 1 in C-Dur kommt die Papstkritik viel gefälliger: „Was ist das für ein Gottvertrauen, wenn der oberste Kirchenherr seine Schafe nur hinter dickem Panzerglas an sich ran lässt?“ Und überhaupt: Wer braucht schon Kirchen? „Einfach nur nett sein. Demut vor der Schöpfung und Nächstenliebe würden reichen.“ Da ist viel Wahres dran. Wie an allem. Und deshalb muss am Schluss auch ein wenig Musik stehen, ohne zynische Texte. Nur Musik von Rether am Flügel, jazzig leicht, poppig schmusig. So kommen alle wieder runter. Rether selbst und auch sein Publikum. Sicher bis zum nächsten Mal.