Unna/Duisburg.

Es ist 13:09 Uhr. Erwartungsfroh steige ich mit meiner Schwester Marie, ihrem Freund Felix und ihrer Freundin Lisa in den Zug. Er soll uns über Dortmund nach Duisburg bringen, zur größten Tanzveranstaltung der Welt. Ich will das Spektakel für das historische Filmexperiment „Life in a day“ von Regisseur Kevin Mcdonald auf Video filen. In einem globalen Experiment sollen Momentaufnahmen der ganzen Welt am 24. Juli 2010 festgehalten werden. Daraus entsteht dann ein Dokumentarfilm.

Zusammen mit vielen bunt verkleideten Ravern verlassen wir den Bahnsteig in SDusiburg und werden im Menschenstrom einfach mitgezogen. Der Haupteingang ist bereits geschlossen und wir müssen das Gebäude über die Rückseite verlassen, wo die Strecke zur Loveparade beginnt. Zwei Kilometer waren sind es bis zum Loveparadegelände.

Polizeisperren in der Duisburger Innenstadt versuchen die Leute am Weiterkommen zu hindern und die Menge abzubremsen. Die Feierwütigen kletterten einfach durch und über die Absperrung. Irgendwann macht der Weg einen Knick nach links und wir können den Eingang zum Loveparade Gelände, die Tunnelpassage, erkennen. Mittlerweile zeigt mir meine Uhr 16:35 Uhr an. Wie mir später klar wird, rund 30 Minuten vor dem Zeitpunkt der grausamen Tragödie. An diesem Eingang gibt es zwar Einlassschleusen, aber niemand reguliert hier den Zulauf, ganz anders wie es Duisburgs Oberbürgermeisters Adolf Sauerland später schildert.

Die Besucher strömen ohne Unterlass hinein in die knapp 15 Meter breiten Tunnel. In meinen Augen hat hier niemand mehr etwas unter Kontrolle und die Beamten und Ordner wirken mit der Situation überfordert.

Für Ortsfremde wie uns ist es furchtbar, durch die stickigen Tunnel gehen zu müssen, ohne den geringsten Schimmer, wo man sich eigentlich befindet. Man hat das Bedürfnis hochzuklettern und sich einen Überblick verschaffen zu wollen. Doch man steht in diesem Betonkanal, links und rechts durch meterhohen Wänden in der Masse eingezwänt und ohne Orientierung. Keiner von uns weiß, wie weit entfernt oder in welcher Himmelsrichtung der Güterbahnhof liegt.

Mehrere Jugendliche versuchen bereits, an den Wänden hinaufzuklettern. Ausgeschildert ist die Rampe zum Loveparadegelände in keinster Weise. Wir gehen also am Zugang erstmal vorbei in den nächsten Tunnel. Erschöpfte und halb benommene Menschen kamen uns entgegen: „Hier geht garnichts mehr, die haben da hinten alles dicht gemacht.“ Felix meint noch: „Heftig, wenn hier unten eine Panik ausbricht, dann hast du echt verloren. Hier gibt es kein entkommen.“ Wir kehren um und eine nette Polizistin weist uns den Weg hoch über die Rampe zum Festivalgelände. Wir passieren die Treppe und die Plakatwand, an der nur 15 Minuten später das Unglück passiert. Eingequetscht zwischen den ganzen Menschen werden wir Stück für Stück auf der Betonbahn hoch in Richtung Festplatz geschoben. Diese Rampe ist kurz vor dem Unglück der einzige Ein- und Ausgang für die vielen Tausend Menschen.

Oben angekommen stehen wir dann auch schon inmitten der Floats. Die Uhr zeigte 16:55 Uhr an und wir mischen uns unter die Menschen und ich halte mit meiner Kamera viele Eindrücke fest. Wir feieren bis 19 Uhr und wollen die Veranstaltung dann wieder verlassen. Merkwürdig kommt es uns vor, dass wir auch den Weg durch die Tunnel nicht mehr nehmen dürfen. Wir werden durch einen Notausgang hinausbefördert, am Rand sitzen junge Menschen, denen der Schock und die Angst ins Gesicht geschrieben steht. Eine Frau meint irgendwann zu uns: „Es gab schon zwölf Tote“, aber richtig ernst nehmen konnte das in dem Moment niemand. Denn wir haben von der Tragödie absolut nichts mitbekommen, keine SMS, kein Anruf.

Später erfahren wir dann, dass das Telefonnetz über dem Gelände komplett zusammengebrochen war. Andere Leute, die mit uns Richtung Bahnhof gehen, haben ihre Freunde und Verwandte in der Menge verloren und warten jetzt verzweifelt auf ein Lebenszeichen. Auch die Hauptstraße, die Richtung Bahnhof führt, ist wegen der Rettungsfahrzeuge komplett gesperrt, sodass wir uns Querfeldein durch Parks und Seitenstraßen zum Hauptbahnhof durchkämpfen.

Irgendwann kommen dann haufenweise SMS und Anrufe wieder durch – wir haben wieder ein Handy-Netz. Wirklich jeder der weiß, dass wir auf der Loveparade waren, hat sich Sorgen gemacht und will von uns wissen, ob es uns gut geht. Schließlich gab es ja nur den einen Zugang zum Gelände und daher konnte zu dem Zeitpunkt der Massenpanik ja wirklich jeder dort gewesen sein.

Meine Eltern haben von den Toten gegen 18 Uhr gehört und waren Angst vor Sorgen. Gegen 19:20 Uhr geht dann mein erster Anruf durch und ich höre nahezu den Stein vom Herzen meiner Eltern fallen. Sie würden uns jetzt überall abholen, aber nun hab wir den Hauptbahnhof schon erreicht und wollen es erstmal alleine versuchen. Polizisten sagen zu uns nur: „Sucht euch irgendwo ein Plätzchen, an dem ihr übernachten könnt“, oder „wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, dann lasst euch abholen.“

Die komplette Infrastruktur ist zusammengebrochen. Alle Zugänge des Hauptbahnhofs sind gesperrt und die Menschen stehen zum Teil schon seit drei Stunden davor. Durch eine Lautsprecherdurchsage erfahren wir von Ersatzbussen uns setzen uns einfach in den Nächsstbesten nach Krefeld. Hauptsache raus aus dieser Chaosstadt, in der von Organisation und Kontrolle jetzt nichts zu spüren ist.

Ab da halten wir eine telefonische Standleitung zu meinem Bruder, der uns die besten Zugverbindungen raussucht. Von Krefeld aus geht es über Köln und Wuppertal nach Unna, wo wir endlich um 23:55 Uhr völlig erschöpft und fertig mit den Nerven ankommen. Von oben bis unten sind wir vom Staub des Güterbahnhofs überzogen und wissen, dass wir den Ort der Massenpanik gerade einmal 15 Minuten vor der Tragödie passiert hatten. Mein Film ist jetzt eher eine Dokumentation über den schwärzesten Tag der Loveparadereihe geworden.

Außerdem war es auch meine erste und letzte Loveparade. Eine Neuauflage soll es laut Veranstalter nämlich nie mehr geben.

Außerdem war es auch meine erste und letzte Loveparade. Eine Neuauflage soll es laut Veranstalter nämlich nie mehr geben.