Haldern. .

Ganz selbstverständlich werden heute die Begriffe „benachteiligte Kinder“ oder „benachteiligte junge Erwachsene“ in politischen und sozialpädagogischen Diskussionen verwendet.

Auch bei den schulischen Lernstandserhebungen wird immer wieder von „Benachteiligten“ gesprochen. „Stimmt das denn so? Kann man diese Begriffe unhinterfragt übernehmen?“, hat sich Rüdiger Gollnick gefragt. Er hat sich des Themas wissenschaftlich angenommen. So viel vorweg: „Der Begriff ist völlig ungeeignet, sein Gebrauch geradezu fahrlässig, weil er die eigentlichen Probleme verdeckt“, sagt der wissenschaftliche Publizist aus Haldern. Die Ergebnisse seiner Fall-Analysen, Strategien und Befragungen aus dem schulischen und sozialen Bereich sind jetzt in eine Publikation eingegangen. Ihr Titel lautet: „Benachteiligt?! Zwischen Selbstverantwortung und Solidarität“.

Vielfach, so Gollnick, werde die Gruppe der Migranten pauschal und unkritisch als benachteiligt bezeichnet. Das dies hinterfragt werden müsse, zeige das Beispiel der Familie Dong. Die vietnamesische Familie hat in Deutschland politisches Asyl erhalten. Der Vater fand eine Arbeitsstelle, die Mutter kümmert sich um die Kinder. Das Erlernen der deutschen Sprache ist für die Dongs, die hier ihre Zukunft sehen, nur konsequent. Dennoch versetzt Frau Dong die Fachleute in Erstaunen, als sie -- und das ist das Besondere -- aus eigenem Antrieb mit ihren beiden Söhnen bei der mobilen sprachtherapeutischen Einrichtung auftaucht, um eventuelle sprachliche Auffälligkeiten oder Artikulationsfehler ihrer Söhne aufspüren zu lassen, die es, wie sich herausstellt, nicht gibt.

Auch das Beispiel Sven wirft Fragen auf. Er ist auf dem besten Weg, in die Gruppe zu rutschen, die landläufig als „benachteiligt“ bezeichnet wird. Sven besucht die 9. Klasse einer Hauptschule, geht nur unregelmäßig zum Unterricht, weil er Lernen für Zeitverschwendung hält. Er jobbt auf dem Bauernhof und verfügt daher über reichlich Taschengeld. Lehrer nimmt er nicht für voll, die Ermahnungen seiner Eltern schlägt er in den Wind.

„Wieso wird so einer als benachteiligt bezeichnet?“, fragt sich Gollnick. Sven habe doch alle Chancen gehabt, diese nur nicht wahrgenommen.

Sven ist nicht das einzige Beispiel aus dem schulischen Bereich, das aufzeigt, wie von Schülern, aber auch von Eltern die Chancen auf Bildung und Qualifikation vernachlässigt oder gar gänzlich missachtet werden, so dass die Jugendlichen perspektivlos die Schule verlassen. Und dann oftmals als „benachteiligt“ bezeichnet werden, um später durch zahlreiche Qualifikationen geschleust zu werden, denen sie sich ebenfalls verweigern. Gollnick: „Man muss sich dann die radikale und kritische Frage stellen: Wenn Chancen, Beratungen und Hilfsangebote nicht in Anspruch genommen werden, weitgehende Gleichgültigkeit und gravierendes Desinteresse vorherrschen - inwieweit ist dann die Gemeinschaft, konkret die Gemeinschaft der Steuerzahler, zur Solidarität verpflichtet?“

Spannend auch: Manche Gruppe, Vietnamesen oder Spanier, haben keine Probleme mit der Integration. Andere sehr wohl. „Vor allem solche mit antiquierten Familienstrukturen“, zitiert Gollnick das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Mehr zum Thema in der 320 Seiten starken Publikation, die im Lit Verlag Berlin erschienen ist. 24,90 Euro.