Berlin / Dorsten. .

Joachim Gauck hat viele Anhänger. Doch nur wenige im Westen kennen den Mann, der Bundespräsident werden will, so lange und so gut wie Helmut Müller-Enbergs.

Der Dorstener Historiker, der im letzten Jahr die Kurras-Akte veröffentlichte, hat sich vor 18 Jahren von Gauck rausschmeißen lassen – und ist wieder rein gekommen.

Dezember 1992, im Vorzimmer von Gaucks Büro. Deutschland ist wiedervereinigt, in der Gauck-Behörde werden Zeithistoriker gesucht, die Stasi-Akten, darunter Dokumente von 624000 Inoffiziellen Stasi-Mitarbeitern (IM), warten auf Aufarbeitung. 700 haben sich auf die Stelle beworben, Helmut Müller-Enbergs hat den Zuschlag bekommen. „Ich habe angeklopft, ach was: angestreichelt, ganz vorsichtig, und dann den Kopf durch die Tür in sein Büro gesteckt.“ Joachim Gauck sah den zögernden Besucher und brüllte: „Raus!“ Kriecher habe er schon genug, „ich brauche Wissenschaftler mit Rückgrat und Zivilcourage.“

Müller-Enbergs versuchte es noch einmal. „Diesmal habe ich dagegen gehämmert und dann die Tür aufgerissen.“ Gauck war zufrieden. „Geht doch. So stelle ich mir Wissenschaftler vor.“

Acht Jahre hat Müller-Enbergs für Gauck gearbeitet, dann kam Marianne Birthler. Beobachter berichten von Unstimmigkeiten zwischen der neuen Chefin und dem inzwischen auch international renommierten Forscher. Im letzten Jahr, als Müller-Enbergs zusammen mit Cornelia Jabs die IM-Tätigkeit des Westberliner Ohnesorg-Schützen Karl-Heinz Kurras enthüllt, schreibt die Berliner Zeitung, Birthler habe „schmallippig“ reagiert. Die Behördenchefin und Müller-Enbergs verbinde seit Langem „eine herzliche Abneigung“.

Bei Gauck dagegen stimmte die Chemie von der ersten Begegnung an. Dabei ist der Chef kein leichter Vorgesetzter. 1995 betreut Müller-Enbergs das Gysi-Gutachten. Gauck hakt nach. Gibt sich nicht mit 99 Prozent zufrieden. Will alles ganz genau erklärt haben. Immer wieder hört Müller-Enbergs: „Verstehe ich nicht. Können Sie das nicht vernünftiger ausdrücken?“ Am Ende schreibt Gauck unter den fertigen Text: „ME, das ist großartig, weiter so.“ Müller-Enbergs fühlt sich kurz wie ein Schuljunge, aber bei einem wie Gauck geht das in Ordnung. „Die Personalführung? Chapeau!“ sagt der heute 50-Jährige. „Gauck hat einen nie im Regen stehen lassen. Und umgekehrt wollte man sein Vertrauen nie beschädigen.“

Der Westfale Müller-Enbergs passt gut in Gaucks Mannschaft. Über einsneunzig groß, breite Stirn, das nötige Maß an Dickköpfigkeit, das man braucht, wenn man gegen viele Widerstände arbeitet, auch gegen die eigenen: „Ich bin zum Glück relativ resistent gegen die Akten“, sagt er, „aber die können einen schon kaputt machen, die schlüpfen einem in die Seele.“ Müller-Enbergs trägt deshalb zum weißen Hemd einen dunkelblauen Pullunder und eine Rüstung aus Ironie. Das schützt ihn.

Rund 12000 Mitarbeiter hatte die Stasi im Westen. Müller-Enbergs kennt viele – doch anders als bei Karl-Heinz Kurras oder Günter Guillaume stehen gerichtsfeste Beweise oft noch aus. „Die deutsch-deutsche Geschichte ist noch nicht fertig geschrieben“, sagt der Forscher, „aber ich werde dazu beitragen.“ Gerade ist Müller-Enbergs in eine Untersuchungskommission gewählt worden, die die Mitglieder des Brandenburgischen Landtags auf eventuelle Stasi-Vergangenheit überprüfen soll.

Im nächsten Frühjahr kommt der Stasi-Forscher dienstlich in die alte Heimat. Aber auch privat sind die Bande eng geknüpft: „Dorsten ist immer noch unser emotionaler Bezugspunkt“, sagt der Vater von zwei Jungs, die sich – obwohl in Berlin geboren – ganz selbstverständlich Westfalen nennen und auch sonst die häuslichen Prägungen übernehmen: „Die beiden wissen nicht, wie die Hauptstädte der Bundesländer heißen, aber sie kennen Hohenschönhausen, Hoheneck und Bautzen.“ Die Stasi-Gefängnisse.

Der Forscher wird Mitte April in Dorsten und Marl einen Vortrag halten über die „Stasi in Dorsten“. Ach, gibt es da was? „Es gibt da einen Dorstener, der steht in Zusammenhang mit DDR-Spionage im Vatikan.“ Mehr will er dazu jetzt noch nicht sagen. Nur soviel: Ein Viertel aller Westspione kam aus NRW.