Düsseldorf. Häftlinge haben in NRW fast 900 Verfahren wegen menschenunwürdiger Unterbringung angestrengt. Bislang sind Schadenersatzforderungen von 3,1 Millionen Euro bekannt. Seit dem Siegburger Foltermord hat es keine Trendwende gegeben. Hinter Gittern herrschen Perspektivlosigkeit und Gewalt.
10,5 Quadratmeter - so viel oder so wenig Platz sollen Häftlinge in den Gefängnissen möglichst in einer Einzelzelle haben. Eine Sanitärkabine zur Verrichtung der Notdurft ist darin inbegriffen. Bei Neu- und Umbauten von Haftanstalten muss die Vorgabe eingehalten werden. In alten Gefängnissen ist es aber oft deutlich beengter. Vier oder mehr Häftlinge teilen sich mancherorts eine Zelle.
Viele Insassen der Haftanstalten sind mit der Unterbringung unzufrieden. Fast 900 Verfahren von Häftlingen, die wegen menschenunwürdiger Unterbringung klagen, laufen derzeit vor den Gerichten des Landes. Mehrere Gefangene haben bereits recht bekommen. Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter (CDU) spricht von einer «einzigartigen Klagewelle». Bislang seien Schadenersatzforderungen von 3,1 Millionen Euro bekannt.
Erst Mitte März hatte das Oberlandesgericht in Hamm einem Ex-Häftling der Justizvollzugsanstalt (JVA) Detmold Schadenersatz in Höhe von zehn Euro pro Hafttag zugesprochen. Nach Auffassung des Zivilsenats kann von einer menschenwürdigen Unterbringung nicht mehr die Rede sein, wenn einem Gefangenen in einer Zelle weniger als fünf Quadratmeter Grundfläche zur Verfügung stehen. Der Kläger war mit insgesamt vier Inhaftierten auf knapp 18 Quadratmeter untergebracht.
17 500 Häftlinge sitzen derzeit ein
Der Krach um die Haftbedingungen ist nur eines der vielen Probleme in den JVA des Landes. 17 500 Häftlinge sitzen derzeit ein, etwa 5800 Gefängniswärter bewachen sie. Fast wöchentlich gibt es neue Negativschlagzeilen über Gewalt, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und Perspektivlosigkeit sowie das auffällig oft erkrankte Personal in den Haftanstalten.
Müller-Piepenkötter weist die Verantwortung für die Dauermisere von sich - auch fast vier Jahre nach ihrem Amtsantritt. Sie bezeichnet die Gefängnisse als «Stiefkind» der rot-grünen Vorgängerregierung. «Das von SPD und Grünen verstoßene Stiefkind 'Strafvollzug', das haben wir als eigenes Kind angenommen. Wir haben seine Unterernährung abgestellt, nach seinen Bedürfnissen gefragt und wir haben dann tatkräftig für sein Wohl und Wehe eingestanden», sagt die CDU-Politikerin.
SPD und Grüne weisen die Vorwürfe zurück. Die Ministerin stehe für ein «systemisches Versagen», für das sie selbst die politische Verantwortung trage, sagt der SPD-Justizexperte Frank Sichau. Neue mutmaßliche Missbrauchsfälle wie die Quälerei von Gefangenen in der JVA Gelsenkirchen zeigten, dass «das Grauen hinter Gittern» weiter gehe. Die Ministerin habe die Lektionen aus Siegburg nicht gelernt.
Debatte über die Zustände
Der Foltermord in der JVA Siegburg hatte im November 2006 eine breite Öffentlichkeit schockiert. Damals quälten und vergewaltigten drei junge Männer einen 20 Jahre alten Mitgefangenen. Anschließend zwangen sie das Opfer, sich zu erhängen. Das Verbrechen löste eine Debatte über die Zustände in den nordrhein-westfälischen Haftanstalten aus - und bewirkte auch Veränderungen. Rund 500 Millionen Euro wurden seitdem für die Modernisierung der Gefängnisse bewilligt. Gesetze wurden novelliert, Psychologen und neues JVA-Personal eingestellt.
Eine grundsätzliche Trendwende ist seit Siegburg aber nicht eingetreten. Mindestens 17 Gefangene nahmen sich im vergangenen Jahr in NRW das Leben. Allein in der JVA Siegburg suchten 70 Gefangene im vergangenen Jahr Arbeit. Die Perspektivlosigkeit von Häftlingen gilt als Haupthindernis für eine Resozialisierung.
Gefangene dürften nicht den Kontakt nach außen verlieren, forderte der Bonner Strafrechtler Torsten Verrel bereits im vergangenen Jahr. «So unpopulär dies auch sein mag: Vollzugslockerungen in Form von Ausgang, Freigang und Urlaub sind wichtig, um die Beziehungen zum normalen Leben nicht abreißen zu lassen», betonte der Professor.
Über Jahrzehnte vernachlässigt
Noch immer sei die Lage in den JVA «verdammt hart», sagt der Landeschef des Bundes der Strafvollzugsbediensteten, Klaus Jäkel. Über Jahrzehnte sei der Justizvollzug von der Politik vernachlässigt worden. Und die nach Siegburg investierten Gelder in neue Bauten und mehr Personal bräuchten Zeit, um Wirkung zu zeigen.
Müller-Piepenkötter selbst will ihre Arbeit fortsetzen. Die Ministerin strebe bei der Landtagswahl 2010 ein Landtagsmandat an, sagt ihr Sprecher. «Sie würde auch gerne weiter im Amt bleiben, um die Vielzahl an Initiativen und Projekten, die sie bislang in die Wege geleitet hat, weiter voranzutreiben.» (ddp)
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