Berlin. „Chuzpe“ heißt der Bestseller von Lily Brett. Mit uns sprach die Autorin über die Eltern, die Auschwitz überlebten, und ihre Arbeit in Berlin.
„Chuzpe“ heißt ein Bestseller von Lily Brett, und denselben Titel trägt ein Stück, das gerade in Berlin Premiere feierte. Mit Ulrike Folkerts und Joachim Bliese in den Hauptrollen. Im Interview spricht die Schriftstellerin darüber, wie es ist, die eigenen Charaktere auf der Bühne zu sehen.
Frau Brett, fast alle Charaktere im Stück tragen Züge von Menschen aus Ihrem eigenen Leben. Die Tochter Ruth hat Momente von Ihnen, ihr Vater Edek von Ihrem Vater, der ja – wie auch Ihre inzwischen verstorbene Mutter – Auschwitz überlebte. Wie ist es, plötzlich die eigenen Charaktere auf der Bühne zu sehen?
Lily Brett: Ulrike Folkerts ist jemand, den ich sehr bewundere. Sie ist so ein kraftvoller Mensch, ein Mensch mit großer Hingabe. Wenn sie als Ruth Rothwax die Bühne betritt, braucht es nur eine Minute, um Ruth Rothwax’ Ängste und Anspannungen zu spüren. Und das ist unglaublich für mich zu sehen. Ich sehe viel von mir selbst in Ulrikes Ruth Rothwax.
Ulrike Folkerts ist eine bekannte TV-Schauspielerin in Deutschland.
Das habe ich gehört. Sie ist eine Kommissarin. Das wusste ich nicht, als ich sie anfangs traf.
Und was sagen Sie zu Edek, dem Vater von Ruth? Er wird von Joachim Bliese gespielt.
Zu Joachim Bliese kann ich nur sagen: In dem Moment, wo er als Edek Rothwax auf der Bühne auftaucht, verliebt man sich in ihn. Er sagt die ersten Worte und erobert sofort die Herzen. Es ist wunderbar.
Ihr Stück heißt „Chuzpe“ – ein schönes jiddisches Wort. Trotzdem ist es um den Originaltitel ein bisschen schade. Es geht ja um Fleischklopse, im Englischen „balls“. Der Originaltitel heißt deshalb: „You got to have balls“. So heißt das geplante Klops-Restaurant im Buch. Im Deutschen würde man sagen: Du brauchst Eier!
Eggs (lacht).
Und wer will schon in ein Restaurant gehen, wo nur Eier serviert werden?
Deshalb haben wir den Titel geändert. Es funktioniert einfach nicht im Deutschen.
Apropos Deutsch. Sie sagten anfangs zu mir, Sie sprechen ein „Kinderdeutsch“. Warum eigentlich? Ihre Eltern kamen doch aus Polen.
Oh, meine Eltern sprachen beide Deutsch. Und anfangs waren wir ja in Deutschland, im DP-Camp. (Displaced Person, d. Red.)
In Bayern trafen sich Ihre Eltern nach dem Krieg, nachdem beide den Holocaust überlebt hatten. Dort wurden Sie 1946 geboren. 1948 wanderte Ihre Familie nach Australien aus.
Genau. Also war Deutsch meine erste Sprache. Mein Vater kann immer noch sehr gut Deutsch, er kann es auch lesen und schreiben. Und das Deutsch meiner Mutter war wunderschön.
Man würde eigentlich denken, dass Ihre Eltern nach dem Holocaust Deutsch gemieden hätten.
Ich glaube, dass jeder Jude, der die Nazizeit überlebt hat, eine gewisse Portion Glück hatte. Es gibt keine andere Erklärung. Meine Mutter erzählte immer, wie sie am Ende, als die Deutschen wussten, dass sie verloren hatten, Vernichtungslager wie Auschwitz räumten. So kam sie nach Stutthof in der Nähe von Danzig.
Die Zeit der Todesmärsche.
Dort in Stutthof verschleppten sie die Häftlinge auf Boote und schmissen sie ins Wasser. Meine Mutter war zu der Zeit in keiner guten Verfassung. Überhaupt nicht. Sie war wie ein Skelett. Und jemand hob sie auf, um sie über Bord zu schmeißen. Und da sagte sie zu ihm in Deutsch: „Sie können mit mir machen, was sie wollen. Es macht mir nichts mehr aus.“ Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen. Und sie erzählte, der Mann kriegte so einen Schock, seine Muttersprache zu hören – seine Muttersprache, die von jemanden gesprochen wurde, den er als „Ungeziefer“ oder „Schädling“ betrachtete – dass er sie fallen ließ. Sie überlebte.
Er sah offenbar plötzlich einen Menschen vor sich.
Ja, sie sagte auch, ihre Haare waren ein wenig nachgewachsen nach Auschwitz. Das war für sie persönlich ein sehr wichtiger Moment. Aber es war nicht nur das. Plötzlich trifft man auf jemanden, der deine Sprache so wunderschön spricht. Sie liebte diese Sprache. Sie sagte immer wieder: Wie kann ein Land, das Goethe und Schiller hervorbrachte, solche Verbrechen begehen? Deutsch zu sprechen war meinen Eltern sehr wichtig.
Wenn man Ihre Bücher liest, muss man oft lachen, weil sie so humorvoll geschrieben sind. Trotzdem gibt es Stellen, an denen man sich als Deutscher kaum traut, weiterzulesen – weil die Scham so groß ist.
Die Leute, die diese Verbrechen verübten, die Leute, die Mitglieder der NSDAP wurden, die Leute, die wegschauten, auch die, die nichts machten – sie sind fast alle weg. Sie sind nicht mehr da. Was sie hinterlassen haben, sind Generationen von Menschen, die sich schämen. Aber was passiert ist, ist nicht deren Schuld. Sie hatten nichts damit zu tun.
Aber man kannte ja noch die Generation der Großeltern. Bei manchen sind es auch die Eltern.
In gewisser Weise gibt es Parallelen zwischen den Kindern der Täter und den Kindern der Opfer. Denn ich wuchs auch im Gefühl auf, schuldig zu sein an dem, was meinen Eltern angetan worden war. Es ist schwer, mit einer Mutter aufzuwachsen, die immer weint. Und dann plötzlich aufhörte zu weinen, von einem Tag auf den anderen. Die nie wieder weinte, aber im Schlaf schrie. Kinder fühlen bis zu einem gewissen Grad eine Art Mitschuld. Sie denken, sie müssten die Dinge irgendwie in Ordnung bringen können. Ich glaube, die Kinder und Enkel der Täter haben da eine ganz ähnliche kindliche Reaktion gehabt.
Man ist als Nachgeborener manchmal hilflos ...
Wenn ich Leute höre, die sagen, wir schämen uns, dann tut mir das leid – denn sie müssen sich nicht schämen. Sie waren es nicht. Die deutsche Regierung hat die Schuld angenommen, die Judenverfolgung ist hier in Deutschland Teil des Unterrichts. Das finde ich bewundernswert. Bislang haben nur sehr, sehr wenige Regierungen eine solche Verantwortung übernommen. Wir hätten eine bessere Welt, wenn auch andere diesem Beispiel folgen würden. Ich spüre eine gewisse Nähe zu den Deutschen. Wir beide teilen diese katastrophale Geschichte – allerdings in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Die Dinge, die sie meiner Mutter angetan haben, waren unaussprechlich. Ich meine das wörtlich. Unaussprechlich.
Und trotzdem haben sie es als Kind gespürt.
Meine Mutter fühlte sich nie sauber. So viele Duschen, so viele Wannenbäder. Auch unser Haus war fast penibel sauber. Aber ich konnte ihre Scham spüren. Sie schämte sich, dass sie lebte und alle anderen, die sie liebte, umgekommen waren. In gewisser Weise fühlte sie sich schuldig, am Leben zu sein. Sie hatte eine sehr große Familie: der geliebte Vater, vier Brüder, drei Schwestern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, Nichten und Neffen. Sie war die Jüngste und ein sehr, sehr geliebtes Kind. Nach dem Krieg lebte sie mit ihnen weiter, jeden Tag.
Sie haben mal geschrieben: Ich bin umgeben von den Toten.
Ja, sie waren alle da. Als Mutter, die ich auch bin, kann ich das gut verstehen. Meine Mutter verlor auch einen Sohn im Getto. Ich kann nicht verstehen, wie man so viele Menschen verlieren kann, die man liebt, und allein zurückbleibt in der Welt – und trotzdem weiterleben will. Man kann also sagen, man ist entsetzt von den Verbrechen der Nazizeit. Aber die Scham gehört Ihnen nicht. Sie gehört auch mir nicht.
Ein Entsetzen über die NS-Zeit also.
Dieses absolute Fehlen der Moral, der Menschlichkeit. Es gab eine Botschaft, die meine Mutter mir damals unbedingt vermitteln wollte, auch, als ich noch viel zu jung dafür war, sie zu verstehen. Sie sagte immer: Ich habe überlebt. Aber es reicht nicht, zu überleben. Du musst als Mensch überleben. Als ich noch sehr klein war, hat mich dieser Satz ziemlich ratlos zurückgelassen.
Weil Ihre Mutter ja offensichtlich ein menschliches Wesen war ...
Genau. Sie war keine Giraffe. Und auch kein Zebra. Was sie meinte, war: Du musst ein guter Mensch bleiben. Diese Botschaft wollten mir beide Eltern unbedingt mitgeben. Andere Leute dachten darüber nach, zum Picknick zu gehen oder in den Zoo. Ich dagegen hatte zwei Eltern, die mir immer wieder sagten: Es ist sehr wichtig, niemanden zu hassen. Es ist sehr wichtig, auf niemanden runterzugucken, der nicht so ist wie du.
Sie wären lieber im Zoo gewesen?
Oh nein. Ich habe das sehr ernst genommen. Und außerdem: Ich spürte schon als Kind ständig das Tragische um mich herum. Australien – das ist ja eigentlich das Land des blauen Himmels, des Sonnenscheins, der Eiscreme und des Strands. Der Strand! Jeder geht dort zum Strand. Aber ich wusste, das ist nicht mein Leben. Wir lebten in einem Haus mit sieben Zimmern. In jedem Zimmer wohnte eine jüdische Familie. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Australien nur eine kleine jüdische Bevölkerung, 90 Prozent der Juden kamen danach als Holocaust-Überlebende. Ich wuchs also in einem Haus auf, in dem alle litten. Alle waren tief verletzt und trauerten. Und in dieser Lage hatte ich Eltern, die mir immer wieder sagten: Du musst ein guter Mensch sein. Und lerne Englisch!
Ihr Humor ist es, der Ihren Büchern diesen ganz eigenen, wundervollen Dreh gibt. Ihr Humor ist eine große Gabe, eine Art Geschenk.
Ich glaube, es ist eine Art Geschenk an mich selbst. Wenn ich über etwas sehr Grausames schreibe, dann weiß ich, danach kommt etwas Lustiges. Darauf freue ich mich dann. Mein Vater hatte immer einen großen Sinn für Humor. Immer. Bis heute. Er brachte auch meine Mutter zum Lachen, und das war nicht leicht. Ich erinnere mich noch ganz genau an die zwei, drei Mal, als ich das auch geschafft habe. Es war so aufregend für mich!
Wie wichtig war der Humor Ihres Vaters für Sie?
Ich glaube, er hat mich in gewisser Weise gerettet. Wenn er lachte, dachte ich als Kind, es ist alles in Ordnung. Und die andere Sache war: Meine Eltern liebten sich sehr. Ich wuchs umgeben von großer Liebe auf.