Düsseldorf. . NRZ-Landeskorrespondent Theo Schumacher erinnert sich an seine erste Landtagswahl 1995 – als die SPD die absolute Mehrheit verlor und erstmals mit den Grünen einen Koalitionsvertrag aushandeln musste.
46 Prozent? Selbst unerschütterlichen Parteigängern kommen bei dieser Zahl wohl eher Gedanken an ihren Lieblings-Whisky oder ihr künftiges Rentenniveau - die Hoffnung auf ein hochprozentiges Wahlergebnis verbindet damit niemand mehr. Man ist bescheiden geworden. 46 Prozent: Was heute, knapp ein Jahr vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, als utopisch gilt und ungläubige Jubelstürme unter Wahlkämpfern auslösen würde, stürzte die SPD vor 21 Jahren in tiefe Depression, in eine Sinnkrise. Theo Schumacher, langjähriger Korrespondent der NRZ in Düsseldorf, erinnert sich an „seine“ erste Landtagswahl, als die absolute Mehrheit in NRW verloren ging. Wahrscheinlich für alle Zeiten.
Es geht schon auf Mitternacht zu in der Villa Horion, als von oben Geräusche zu vernehmen sind. Stundenlang haben sie hinter verschlossenen Türen in der ersten Etage des Dienstsitzes von Johannes Rau beraten. Wieder und wieder haben Wolfgang Clement und SPD-Chef Rudolf Scharping auf den zerknirschten Ministerpräsidenten eingeredet. Rau zögert, er will hinwerfen, so wird kolportiert. Reichlich Pils ist geflossen, aber jetzt steht die Entscheidung. Als Rau, begleitet von seiner Frau Christina, mit leicht schwankendem Gang die Treppe herunterkommt, wortlos vorbei an den wartenden Journalisten, ist uns sofort klar: er wird es machen.
Es, das ist für die seit 15 Jahren mit satter absoluter Mehrheit an Rhein und Ruhr regierende SPD das Unvorstellbare: eine Koalition mit den Grünen. „Lieber ein Haus im Grünen als die Grünen im Haus“, hat Rau im Wahlkampf solche Gedankenspiele auf seine typische Art abgetan, und nach Schließung der Wahllokale an diesem 14. Mai 1995 sieht es zunächst auch so aus, als habe es für die Genossen noch einmal gereicht, wenn auch mit hauchdünnem Vorsprung. Doch dann, gerade als der vermeintlich absolute Rau im Landtag vor die Medien treten will, zerstört eine neue Hochrechnung jede Hoffnung auf weitere Alleinherrschaft. Mit 10 Prozent verdoppeln die Grünen ihr Resultat von 1990 und zwingen die SPD in eine Koalition. „Wir brauchen kein fünftes Rad am Wagen“, hat die SPD zuvor plakatiert. Vergeblich.
Es soll eine seltsam fremde Verbindung werden, die den Namen Bündnis überhaupt nicht verdient. „Ein Kulturschock für beide Seiten“, nennt Grünen-Landeschef Reiner Priggen das rot-grüne Experiment. Dass sich Rau an diesem Abend überhaupt darauf einlässt, entspringt nicht etwa heimlicher Sympathie für die Grünen, sondern seinem untrüglichen Machtinstinkt. Den Traum, eines Tages Bundespräsident zu werden, hat er auch nach seiner ersten verlorenen Kandidatur gegen Roman Herzog ein Jahr zuvor nicht aufgegeben. Aber Rau ist klar, eine Mehrheit in der Bundesversammlung kann es für ihn bei einem zweiten Versuch nur mit den Grünen geben. So wird ausgerechnet der „ergrünende Rau“, wie die NRZ kommentiert, zum Garanten der ersten rot-günen Koalition in NRW.
Aber so weit ist es an diesem Wahlabend noch nicht. Dass die SPD überhaupt ihre eigene Mehrheit verloren hat, muss sie sich nach einem lauen Auftritt selbst zuschreiben. Als junger Korrespondent und Nachfolger von Horst-Werner Hartelt habe ich auf einen Wahlkampf voller Spannung gehofft. Doch er plätschert ereignislos vor sich hin. Das SPD-Programm heißt Rau, sonst nichts, von Politik ist kaum die Rede. Die CDU, in Umfragen weit abgeschlagen, sucht ihr Heil in einer Angstkampagne. Die Christdemokraten zeichnen das Zerrbild eines Landes, das in Kriminalität versinkt, und präsentieren dazu ihren Spitzenkandidaten Helmut Linssen auf Plakaten als Fahnder mit grimmigem Blick. Rau, ein begnadeter Wahlkämpfer, erledigt das Thema in Manier eines Volksschauspielers. Beiläufig deutet der Landesvater bei Marktplatz-Reden im Münsterland oder Sauerland auf Linssens Finstermann-Porträt und beruhigt die Zuhörer: „Das da hinten ist der Oppositionsführer, aber vor dem müssen Sie keine Angst haben. Der ist gar nicht so böse wie er aussieht.“
So döst der Wahlkampf vor sich hin. Nur die Grünen schaffen es, mit dem Kampf gegen den Braunkohle-Tagebau Garzweiler II ein identitätsstiftendes Thema zu setzen und ihre Anhänger zu mobilisieren. Viel zu spät merken die Strategen der SPD, dass sie auch Teile ihrer eigenen Wählerschaft eingeschläfert haben. Um sie wachzurütteln und doch noch an die Wahlurnen zu bringen, schlägt Landtagsfraktionschef Friedhelm Farthmann in letzter Minute intern vor, Rau solle öffentlich drohen, dass er nur bei erneuter absoluter Mehrheit als Ministerpräsident weitermachen wird. Aber das will Rau nicht riskieren. Womöglich durchschaut er auch Hintergedanken seines ewigen Gegenspielers Farthmann. Als dann der Wahlsonntag da ist, sagen sich viele Genossen, der Johannes wird das schon machen, und bleiben lieber auf dem Sofa liegen.
Doch Rau macht es diesmal nicht, und jetzt stehen die Zeichen auf Rot-Grün. Über die Koalition verhandelt wird in der Bonner NRW-Landesvertretung, in Nachbarschaft des Kanzleramts. Plötzlich sind SPD und Grüne ganz nahe an Helmut Kohl herangerückt. Aber trotz aller inszenierter Freundlichkeit wird es ein zähes und unerquickliches Ringen zwischen hartgesottenen Betonköpfen, die ihre Politik allein zu bestimmen gewohnt sind, und idealistischen Ökopaxen, die auf jedem Politikfeld die „Wende“ proklamieren wollen. Teilweise wird bis in in die tiefe Nacht gestritten. Nicht nur der emotional aufgeputschte Garzweiler-Konflikt entzweit Rote und Grüne. Als SPD-Finanzminister Heinz Schleußer fast an seinem grünen Widerpart Manfred Busch verzweifelt, kalauert Rau in kleinem Kreis, wenn das so weitergehe, werde in NRW demnächst „Buschgeld“ als Währung eingeführt.
Rau kann seinen Widerwillen kaum verbergen. Die Verhandlungen lässt er mehr über sich ergehen als sie zu gestalten. Einmal mosert er nach einer schlaflosen Nacht über die Journalisten, „die unter meinem Fenster Koalitionsverhandlungen geführt haben“. Es sind endlose, oft ereignislose Stunden, die die Korrespondenten vor der NRW-Vertretung ausharren, in der Hoffnung auf irgendeine Nachricht. Noch hat kaum einer ein Handy, die vorsintflutlichen Laptops versagen nicht selten ihren Dienst. Mehrfach rettet mich das nahegelegene Büro meines Bonner Kollegen Miguel Sanches, wo ich mit der NRZ-Zentrale in Essen telefonieren und schnell einen Text absetzen kann. Mehr als einmal stehen die Gespräche zwischen SPD und Grünen auf der Kippe. Nur Joschka Fischer, der uns im Regierungsviertel über den Weg läuft, bleibt gelassen. „Rot-Grün ist nicht mehr aufzuhalten“, sagt er und hat dabei schon fest die nächste Bundestagswahl im Blick.
Nach einem Monat steht endlich der Koalitionsvertrag, ein opulentes Papier aus Formelkompromissen mit viel Wenn und Aber. Im Düsseldorfer Regierungsalltag machen SPD und Grüne weiter, wie sie verhandelt haben: wenig Harmonie, viel Getöse. Mehrfach versuchen grüne „Fundis“ auf Krisenparteitagen, die Koalition zu sprengen, doch schnell etabliert sich eine solide Zweidrittel-Mehrheit unter den Delegierten, die dies zu verhindern weiß. Viele Grüne haben inzwischen Gefallen an Macht und Einfluß gefunden. Weit mehr als der störrische Juniorpartner in der Koalition setzt Rau die Kumpanei einiger führender SPD-Politiker mit befreundeten Journalisten zu, die den Ministerpräsidenten vorzeitig aus seinem Amt drängen wollen. Die Kampagne gipfelt in einem „Spiegel“-Artikel mit der Überschrift: „Der Kerl muss weg!“
Doch Rau hält durch. Erst im Frühjahr 1998 macht er den Platz an der Regierungsspitze für Wolfgang Clement frei - den Fahrplan seines Rückzugs meldet die NRZ vorab exklusiv. Die rot-grüne „Streitkoalition“ aber hält trotz aller Differenzen. Ein halbes Jahr später stoßen Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Joschka Fischer auf die Machtübernahme von SPD und Grünen im Bund an. Kohl ist Geschichte. Und noch einmal vergehen ein paar Monate, ehe der 68-jährige Rau im Mai 1999 im Berliner Reichstag zum Bundespräsidenten gewählt wird. Er ist am Ziel.
Es herrscht rot-grüne Champagnerlaune. Begonnen aber hat alles bei Pils, vier Jahre zuvor in einer verkaterten Wahlnacht in der Düsseldorfer Staatskanzlei.