Bordeaux/Évian. Unverhofft wurde der Kölner Linksverteidiger Jonas Hector zu einem EM-Helden. Mit einem Glücksschuss erlebt er den Höhepunkt einer wechselhaften Laufbahn.

Jonas Hector steht am frühen Sonntagmorgen kurz vor 1 Uhr in der Tiefgarage des Stade de Bordeaux und hat die Hände in den Hosentaschen. Wenn er selbst sich in dieser Situation schon nicht verstecken kann, dann wenigstens sie. Seine Worte von der unverhofften Chance gelten eigentlich dem letzten Elfmeter in einem epischen Elfmeterduell gegen Italien, der Deutschland soeben den Halbfinaleinzug bei der EM beschert hat.

Hector war als Schütze gar nicht vorgesehen, aber weil nach acht Versuchen pro Team irgendwann nicht mehr viele andere Optionen übrig blieben, kam er dran. Nun bildet sich eine Reportertraube um den Linksverteidiger der deutschen Nationalelf und will wissen, wie man sich fühlt, wenn man zum finalen Schuss anläuft.

Kein Mann für große Reden

„Mir ging relativ wenig durch den Kopf. Ich habe einfach nur gehofft, dass er reingeht“, sagt Hector, was ihn bestens beschreibt. Ein intelligenter Bursche ist er , aber keiner für die großen Reden – und eigentlich auch keiner für die großen Bühnen.

Wie besonders die Situation wirklich ist, belegt dieser Sachverhalt: Den Schuss gegen Italien kann der 26-Jährige nicht mehr vergessen. „Es war mein erster Elfmeter in meiner Profikarriere. In der Jugend öfter, im Seniorenbereich habe ich noch nie einen geschossen.“

Hinterher ist es gleichgültig, dass der entscheidende Schuss ein Glücksschuss war, der dem italienischen Torwart Buffon irgendwie unterm Arm ins Tor gerutscht war.

Das Schicksal hat sich nun einmal dafür entschieden, Hector zum Helden dieses heldensuchenden EM-Abends zu machen. Das ist nichts weniger als eine Sensation.

Und Hector ist der einzige Unter-30-Jährige im EM-Kader von Joachim Löw, der nicht aus einem Nachwuchsleistungszen­trum in der DFB-Struktur stammt. „Ich bin ein Spätstarter“, sagt er.

Denn wie der Jonas Hector am Samstag war auch der Fußballprofi Jonas Hector – geschweige denn der Nationalspieler und EM-Startelfspieler – überhaupt niemals vorgesehen. Bis er 19 Jahre alt war, spielte Hector in der saarländischen Verbandsliga mit seinem Heimatdorf Auersmacher. 2600 Einwohner, direkt an der französischen Grenze. Hector war noch Zehner und versuchte, sich nach dem Aufstieg in die Oberliga mit Probetrainings bei größeren Klubs anzubieten. Bei der U23 des FC Bayern sagte ihm der Trainer, er solle erst einmal eine Liga tiefer anfangen. Der Trainer war: Mehmet Scholl, der frühere Bayern-Profi und aktuelle Löw-Kritiker. Schon damals lag Scholl bisweilen daneben. Bochum wollte Hector, aber der blieb ein Jahr in Auersmacher.

„Ich war noch nicht so weit, mein Zuhause zu verlassen“, hat er mal dieser Zeitung erzählt. Erst mit 20 traute er sich zu den Amateuren des 1. FC Köln. Holger Stanislawski beförderte ihn zu den Profis und schulte ihn zum Linksverteidiger um: Den Elfmeterhelden Hector hätte es ohne diese Entscheidung nie gegeben – weil der deutsche Fußball auf jener Position einen Mangel aufweist. Ironie dieser Geschichte.

Italien-Spiel als Karriere-Höhepunkt

Der Unverhoffte hat eine rockefellereske Aufstiegsgeschichte geschrieben – mit Italien als Höhepunkt. „Das ist ein Moment, der auf jeden Fall in Erinnerung bleibt“, sagt Hector. Mehr Emotionalität gestattet er sich bei öffentlichen Auftritten nicht. Löw, der ihn seit einem Jahr in jedem Länderspiel stets von Beginn an aufbot, lobt Hector, der ja nicht nur vom Punkt traf, sondern auch das 1:0 von Mesut Özil vorbereitet hatte: „In so einer Situation zum Elfmeter anzutreten, zeugt von großer Stärke.“