Évian-les-Bains. Bundestrainer Joachim Löw lächelt Kritik weg und demonstriert glaubhaft Gelassenheit. Den Weltmeister bringt offenbar nichts mehr aus der Ruhe.
Es hat eine Verwandlung stattgefunden. Wann genau sie begann, und ob darin nicht auch eine Gefahr steckt, das konnte bisher noch nicht abschließend ermittelt werden. Nur dass da oben auf den Bühnen der diversen Pressekonferenzen bei der EM jetzt ein Mann sitzt, der zwar immer noch so aussieht wie Joachim Löw, aber längst nicht mehr so klingt. Das ist seit Beginn des Turniers nicht zu übersehen. Eine Metamorphose kann man das nennen. Und sie hat dazu geführt, dass in Frankreich sehr viel gelacht wird.
Das läuft dann so wie am Sonnabend, zwei Tage nach dem ernüchternden 0:0 der deutschen Nationalelf gegen Polen, das viele in der Heimat keineswegs zum Lachen fanden. Da saß Löw auf der Pressekonferenz und beantwortete 43 Minuten lang Fragen. Zum Beispiel ob ihn die Schärfe der Kritik überrasche, die viele Medien und – besonders scharf – der Veteran Michael Ballack vorgetragen hatten (der Elf fehle Persönlichkeit und Charakter). Der Bundestrainer antwortete: „Das zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Die Debatte über Führungsspieler gab es schon 2014. Dann sind wir Weltmeister geworden, und plötzlich waren all die Kritisierten die großartigen Leader in der Mannschaft. Und jetzt spielen wir einmal 0:0, und die Diskussion kommt wieder?“ Großes Gelächter im Saal.
Kritik wird weggelächelt
Aber Löw hat die aufkommende Kritik an ihm und seiner Elf nicht nur weggelächelt. Ihr hatte er nach der Rückkehr aus Paris in einer Analyse des Polen-Spiels die offensiven Defizite vorgeführt, bevor er ihr den Sonnabend frei gab, „um mal den Kopf frei zu kriegen“. Der 56-Jährige reagierte so, wie er bisher auf alles reagiert hat, was ihm seit Beginn der EM-Vorbereitung begegnet ist: mit einer demonstrativen Gelassenheit, die in seinem Repertoire bei den Turnieren zuvor so nicht zu finden war.
Das Löw-Bild der WM 2014 ist das des einsamen Läufers vom Strand in Santo André. Eine Sonnenbrille trug er auf der Nase, Kopfhörer im Ohr. Die Welt blieb draußen, während drinnen in ihm ein Kampf über die richtige Aufstellung tobte. Löw machte sich in Brasilien so rar wie niemals zuvor: Nur zwei Mal in fünf Wochen erschien er auf einer Pressekonferenz, zu der er nicht durch das Reglement gezwungen war wie am Tag vor einem Spiel. Nur zwei Interviews gab er.
Das Löw-Bild der EM in Frankreich bisher ist das des Witzeerzählers von Evian. Bei jedem einzelnen Auftritt brachte er die Journalisten zum Lachen: Einmal neckte er den DFB-Präsidenten und ehemaligen Schatzmeister Reinhard Grindel, dass finanziell gesehen ein frühes Ausscheiden wohl besser für den Verband wäre.
Und selbst in der heikelsten Lage, als sein Fehlgriff abseits des Spielfeldes und Schweißflecken auf seinem Shirt Spott und Empörung hervorriefen, machte sich Löw einen Spaß und versprach, ein anderes Shirt zu tragen, auf dem die Schweißränder nicht zu sehen seien würden. Ganz entspannt entschuldigte er sich danach noch für seinen Fauxpas.
Es scheint, als habe der WM-Titel Löw erhaben gemacht. Er begegnet dieser Welt der schnellen Bewertung seiner Arbeit zunehmend mit der Distanz eines Mannes, der allen bereits gegeben hat, was sie wollten. Nun ist er frei.
Entscheidend bei dieser Verwandlung ist allerdings, ob sie zu Hybris führt, die den Blick auf die Realität verstellt und das neue Ziel EM-Titel in Gefahr bringt. Am Sonnabend wirkte Löw nicht überheblich: „Wir haben die Laufwege und die Geschwindigkeit zum Tor vermissen lassen“, analysierte er.
Das sei ein wichtiger Ansatzpunkt, an dem er mit dem Team arbeiten werde. Aber das Problem sei keineswegs die Frage, ob Mario Götze oder Mario Gomez im Sturm spiele: „Wir waren zu wenige Spieler im Strafraum. Entscheidend ist, dass wir mit Tempo ins Zentrum gehen“, sagte Löw. Er sehe das aber nicht als grundsätzliches Problem.
„Der Weg führt nach Lille“
Was Löw nicht sagte: Seine Mannschaft begleitet diese Ziellosigkeit im Angriff schon deutlich länger als nur 90 Minuten. Fast die komplette EM-Qualifikation schlug sie sich damit rum. Damals waren wenigstens noch die Chancen da, und nur der Abschluss mangelhaft. Nun sind auch die Chancen verschwunden, und Löw muss sie wieder finden lassen. Dass ihm das gelingt, daran hat er keinen Zweifel: „Ich bin absolut entspannt“, sagte Löw. Er könne sich zwar sehr gut vorstellen, gegen Nordirland im abschließenden Gruppenspiel am Dienstag ein paar personelle Änderungen vorzunehmen, was stark danach klang, als würde Gomez beginnen. Er wollte das aber nicht als Reaktion auf die Kritik verstanden wissen, sondern als ohnehin geplantes Manöver. Wohin sein Team reisen müsse, wenn es wider Erwarten nicht Gruppenerster werden würde, wurde Löw gefragt: „Wir wollen gegen Nordirland gewinnen, wir werden gewinnen und nach Lille zum Achtelfinale fahren. Einen anderen Weg kenne ich nicht.“