Essen. Jahrzehntelang ging die Zahl der Verkehrstoten zurück. In diesem Jahr nun gibt es erstmals wieder einen Gegentrend. Warum, darüber rätseln die Verkehrsexperten derzeit noch. Im vergangenen Jahr waren 4000 Tote im Straßenverkehr zu beklagen.

Das Ziel heißt „Vision Zero“. Zero wie Null. Gesetzt hat es die EU. Es bedeutet, dass Straßen und Verkehrsmittel so sicher zu gestalten sind, dass kein Verkehrsteilnehmer mehr sterben muss oder schwer verletzt wird.

Eine ehrgeizige Option. Noch ist man im Bundestag ­einig, ihr annähernd gerecht werden zu können. „Jeder Verkehrstote ist ein Toter zu viel“, sagt die SPD-Abgeordnete Kirsten Lühmann. Kinder, Fahranfänger, Fußgänger und Radfahrer seien besonders zu schützen, fordert ihr Kollege Gero Storjohann von der CDU. Seine Fraktion will die Zahl der Verkehrstoten bis 2020 um 40 Prozent senken, die SPD sogar um die Hälfte.

Fahranfänger besser schulen

Je nach politischem Standort glauben die Fraktionen an unterschiedliche Instrumente. Die Fahranfängerschulung müsse verbessert, über Wegfahrsperren für alkoholisierte Fahrer geredet werden. So will es die Union. Kern der sozialdemokratischen Forderung ist ein grundsätzliches Tempo 30 in Städten, ein mögliches Geschwindigkeitslimit für Fahranfänger und auch längere Grün-Phasen für Fußgänger. Die FDP will Unfallschwerpunkte auf Landstraßen entschärfen, die Linke Autos generell „entschleunigen“.

Null Promille und Tempolimits als Lösung

Null-Promille für alle und Tempo­limits auf Autobahnen sind traditionell grüne Agenda. Die Grünen stellen aber auch die Frage, ob so viele „Mama-Taxis“ nötig seien: Kinder würden massenweise durch die Gegend geschaukelt – so, dass ihnen die mangelnde Erfahrung zum Verhängnis würde, wenn sie dann selbstständig unterwegs seien.

Den Optimismus, dass so ein Sammelsurium an Maßnahmen mehr Verkehrs­sicherheit bringen wird, ­nehmen die Bundestagsfrak­tionen aus der Statistik. 1970 starben 21 332 Menschen im Verkehr. Das war noch in der Alt-Bundesrepublik. In den letzten Jahren kamen jährlich weniger als 4000 um.

Auch wenn jeder Tote einer zu viel ist: Es ist natürlich eine beispiellose Erfolgsstory, die auf Gesetze (wie Gurtpflicht), bessere Technik (wie Antiblockiersysteme), neue Autoformen und – wie in NRW – auch auf eine engagierte Verkehrssicherheitsarbeit der Polizei zurückgeführt wird.

Ältere auf dem Fahrrad

Doch jetzt herrscht Ver­wirrung. Der Verkehrsopfer-Trend, der über Jahre nur nach unten gerichtet war, ist gebremst. 2011 könnte es wieder mehr Tote als 2010 geben. Schon in den ersten acht Monaten starben 2546 Menschen im Verkehr. Sechs Prozent mehr als im Vorjahr. Auch die Zahl der Verletzten nahm zu. Statistischer Zufall? Übersehene Gefahren? Das ­Wetter? Ob der Verkehrsclub Deutschland (VCD), der AvD oder die Bundesanstalt für ­Straßen- we­sen: Sie sind zunächst ratlos, wollen aber die ­Ent­wicklung noch nicht ­ab­schließend bewerten. Mehr wisse man, wenn die Daten für 2011 ­komplett seien.

Vielleicht formiert sich aber der Straßenverkehr auch gerade neu und schafft so neue Gefahren. Schließlich steigen viele aufs Rad um.

Der Autoclub Deutschland (ACD) hat ermittelt, dass in den letzten zwölf Jahren die Zahl der verunglückten Radler um zwölf Prozent stieg. Jeder zweite, der zu Tode kam, war ein Mann – und über 65 Jahre alt.