Essen. . Ein Regionalexpress fällt aus, viele Pendler steigen in einen ICE, um nicht zu spät zu kommen. Doch das dürfen sie erst, wenn sie sonst 20 Minuten zu spät an ihrem Zielbahnhof ankommen würden. Das war aber laut Bahn nicht der Fall. Protokoll einer Graufahrt.
Bahnchef Rüdiger Grube hat am Dienstag mehr Pünktlichkeit versprochen. Und er hat den Regionalverkehr gelobt, der sehr pünktlich sei. Wie pünktlich ist die Bahn also? Eine Erfahrung von diesem Mittwoch früh: Manchmal ist sie nicht einmal unpünktlich. Dann kommt sie gar nicht. Wie der Regionalexpress 6 auf der Revier-Rennstrecke Dortmund-Düsseldorf. Wie die Menschen reagierten, wie die Bahn, die Bundespolizei und was dann passierte: Das Protokoll einer Graufahrt.
Dortmund Hauptbahnhof, Gleis 18. Rush Hour, kurz nach acht Uhr. Jeden Tag um diese Zeit stehen hier Hunderte von Fahrgästen. Sie wollen mit dem RE 6, Abfahrt 08.06 Uhr, nach Bochum, Essen, Duisburg, manche auch zum Flughafen Düsseldorf oder direkt in die Landeshauptstadt. Wer dorthin muss, zahlt in der Preisstufe D des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr etwa 120 Euro im Monat. Heute aber geht nichts. Der weiße Strich auf der blauen Anzeigetafel meldet: Zug fällt aus.
Der ICE, die nächste Reisemöglichkeit
Dortmund Hauptbahnhof, nach 08.06 Uhr, Gleis 12. Hier soll der nächste Zug Richtung Essen fahren. Der ICE 646 von Berlin-Ostbahnhof nach Köln/Bonn Flughafen um 08.12 Uhr. Die RE6-Fahrgäste haben sich auf dem ICE-Bahnsteig fast komplett eingefunden. Allen ist klar: Der ICE ist die nächste Reisemöglichkeit. Man ist, zum Beispiel in Essen, vier Minuten später als mit dem ausgefallenen Regionalexpress. Das ist hinnehmbar.
Dortmund Hauptbahnhof, 08.12 Uhr. Der ICE aus Berlin läuft ein. „Der Zug ist nicht für Verbundfahrgäste freigegeben“, sagt der Lautsprecher – und empfiehlt: Die betroffenen Fahrgäste sollten bitte den Regionalexpress um 08.21 nach Mönchengladbach nehmen. Problem: Geht nicht. Der fährt nicht über Düsseldorf. Die Verbundfahrgäste sind aufgebracht, steigen in die ICE – trotz Verbot – ein. Sie tun es höflich: Man nimmt die Stehplätze.
Der Zugchef ist aufgebracht
Unterwegs zwischen Dortmund und Bochum. Der Zugchef kommt. Jetzt ist er aufgebracht. Alles Graufahrer hier? „Sie dürfen diesen Zug nicht benutzen.“ Die Fahrgäste: „Der Regionalexpress ist ausgefallen. Wir haben um neun Uhr Termine“. Es fällt, von Seiten des Bahnpersonals, ein Satz: „Dann müssen Sie eben früher aufstehen“.
Die Bahn sagt, Fahrgäste dürfen erst einen höherwertigen Zug nutzen, wenn ihre Verspätung am Zielbahnhof sonst 20 Minuten betragen würde. In Dortmund sei das nicht der Fall gewesen, sagt Udo Kampschulte von DB Regio. Dort seien Regionalzüge gefahren, die mit 17 Minuten Verspätung in Duisburg oder Düsseldorf gewesen wären. "Die Bedingungen für die Benutzung eines höherwertigen Zuges waren damit nicht gegeben."
Bochum Hauptbahnhof. Die Szenen wie in Dortmund. Verbund-Fahrgäste drängen in den ICE. Sie haben sich an der Info-Stelle erkundigt, ob der ICE freigegeben ist. Antwort: Nein. Und: „Wenn Sie das anders sehen, müssen Sie sich beschweren“. Immerhin: Dafür gibt es Adress-Kärtchen und einen Zettel, der besagt, dass RE 6 heute ausgefallen ist.
Von Überfüllung keine Rede
Unterwegs zwischen Bochum und Essen. Kurz vor Essen eine Lautsprecher-Ansage des Zugchefs von ICE 646: „Wir werden Essen Hauptbahnhof verzögert verlassen. Der Zug fährt erst weiter, wenn alle Fahrgäste mit Verbundausweisen den Zug verlassen haben“. Die Stimmung an Bord wird bombig. Der Zugchef ruft über Funk die Bundespolizei in Essen.
Essen Hauptbahnhof, 08.34 Uhr. Auf dem Bahnsteig blaue Uniformen mit weißen Schirmmützen. Der Zugchef geht auf den Einsatzleiter zu. Es fällt im Zwiegespräch das Wort vom „Räumen“. Aber jetzt sieht der Einsatzleiter das nicht ein. „Wir sind wegen Überfüllung geholt worden“. Von Überfüllung ist aber keine Rede. Der Zugchef fordert die Polizisten noch einmal auf, die Verbundfahrgäste zum Verlassen des Zuges aufzufordern. Er murmelt irgendwas von „Hausrecht“. Doch die Polizei weigert sich. „Die Fahrgäste haben ja noch die Möglichkeit, nachzuzahlen. Wir können sie nicht rausschicken“, sagt der Einsatzleiter.
„Man fühlt sich als Fahrgast zweiter Klasse“
Essen Hauptbahnhof, 08.43 Uhr. ICE 646 steht immer noch am Bahnsteig, hat wegen der Affäre jetzt neun Minuten Verspätung. Die Polizei empfiehlt dem Zugchef, jetzt auf jeden einzelnen Fahrgast zuzugehen und die Nachzahlung zu verlangen, die sie sich später erstatten lassen könnten. „Wenn Sie wollen, bleiben wir so lange hier“. Der Zugchef, dem offenbar langsam wegen der Verspätung mulmig wird, verzichtet auf den Polizeischutz. Er sagt: „Was glauben Sie eigentlich, was hier los war? In Bochum. In Dortmund. Überall standen zwanzig, dreißig Leute um mich rum. Aber ich mach das jetzt schon alleine“.
Essen Hauptbahnhof, 08.44 Uhr. Die Türen schließen. ICE 646 fährt Richtung Düsseldorf. Mit den Graufahrern.
Christine Lege ist mit ihrem Verbund-Ticket von Bochum nach Essen an Bord gewesen, wie jeden Tag. Heute hat sie den ICE genommen, weil sie nicht zu spät zur Arbeit kommen wollte. „Man hat den Eindruck, als sei man als Nahverkehrsfahrgast ein Kunde zweiter Klasse“, sagt sie. Und sie gibt der Bahn die Empfehlung, endlich einmal klar zu regeln, wann „höherwertige Züge“ genutzt werden dürfen und wann nicht. „Das ist zu beliebig“. (WE)