Nichts geht ohne ihn. Nicht einmal ein Kabinett Merkel/Seehofer/Gabriel. Aus einer Höhe von 3,40 Meter hat der bronzene Parteichef die Verhandlungsführer der aktuellen großen Koalition beaufsichtigt. Der Mindestlohn? Ist zu Füßen seiner riesigen, 500 Kilo schweren Skulptur verkündet worden, die der Künstler Rainer Fetting geschaffen hat. Wo? In Berlin im Willy Brandt-Haus natürlich. Willy Brandt lässt sein Land und seine Stadt nicht in Ruhe.
18. Dezember 1913. Herbert Ernst Karl Frahm wird unehelich im Lübecker Arbeiterviertel St. Lorenz nahe Holstentor und Trave geboren. Auf der Flucht vor den Nazis 1933 nach Norwegen nimmt er den Namen Willy Brandt an. Nach dem Krieg macht er als Regierender Bürgermeister von Berlin Karriere und wird 1969 erster sozialdemokratischer Regierungschef der Bundesrepublik. Nie zuvor – und nie später – hat ein deutscher Kanzler die Menschen in so kurzer Zeit so politisch sozialisiert. Und so stark polarisiert.
Angefeindet und geliebt
Was für eine Maifeier! 7000 Sozialdemokraten drängeln sich im Dunkel der Grugahalle. Auf der Bühne singt Katja Ebstein das „kleine Lied vom Frieden“. Sie reißt die 7000 mit. Aber das ist nichts gegen den Orkan, der losbricht, als das Idol der Generation auftritt. Brandt ist da. Tränen fließen. Es ist der 30. April 1972, und es sind Tage, in denen die Bundesrepublik in politischer Erregung fiebert. Vor 72 Stunden hat der Bundestag das konstruktive Misstrauensvotum gegen den Kanzler scheitern lassen. Zwei Abgeordnete haben nicht für ihren Kandidaten Rainer Barzel gestimmt. Was keiner weiß: Ihre Stimmen waren von der DDR-Stasi für 50 000 D-Mark gekauft. Dann, vor nicht einmal 24 Stunden, ist der Haushalt der Regierung in einem Patt gestoppt worden. Was das alles heißt? Das Parlament hat Willy Brandt gewollt – und seine Politik durchfallen lassen.
„Die Lage in Bonn ist nicht ganz einfach“, untertreibt der Kanzler an diesem aufgeregten Abend in Essen. So viel Understatement lieben seine Leute. Sie lieben an ihm noch mehr: Die Art zu reden. Die Stimme. Das Auftreten. Den Charme. Ein halbes Jahr nach der Nacht in der Gruga werden in der vorgezogenen Neuwahl 60 Prozent der jungen Menschen für den Mann stimmen und eine klare Mehrheit der Frauen.
Mann der vielen Widersprüche
Wer ist Willy Brandt? Ein Linker? Ein Rechter? Ein Typ der Widersprüche! In seiner Jugend trägt er, dank eines Begabtenstipendiums, die Schülerkappe des vornehmen Gymnasiums Johanneum – und zieht abends mit dem rotem Halstuch der Sozialistischen Arbeiterjugend durch die Hansestadt. Er gilt den Kommunisten Osteuropas als gefährlicher kalter Krieger – und erhält den Friedensnobelpreis. Er öffnet sich als Kanzler den Forderungen der ‘68er – und zeichnet den „Radikalenerlass“, der Linkslastige aus dem öffentlichen Dienst fernhält. Er ist der Kumpel der Massen, der zu „Herrn Pastor sin Kau“ schunkelt, Bier und auf ärztlichen Druck hin auch Wein mag – und fällt im Kanzlerbüro durch kühle Distanz zu Mitarbeitern auf und durch depressive Rückzüge in seine Dachkammer am Bonner Venusberg.
Vielleicht ist jeder so, der ein Leben lang persönlichen Angriffen ausgesetzt ist. Wie Brandt. Das politische Establishment, mit den pflichtbewussten Kärrnern Herbert Wehner und Helmut Schmidt auch das der eigenen Partei, sieht in ihm mal den Fahnenflüchtigen, mal den Unmoralischen. „Was machte Brandt im Krieg? Wir wissen, was wir gemacht haben“, ruft Franz-Josef Strauß. Als „alias Frahm“ beschimpfen ihn Adenauer und – auch die SED-Oberen. Aber sie werden irgendwann mit ihm verhandeln. Und Strauß, als Bundesminister für Finanzen, wird mit Brandt, dem Bundesminister des Auswärtigen, 1966 am Kabinettstisch der ersten Großen Koalition sitzen.
Nicht nur der Friedenskanzler
Die SPD hat es bis dahin schwer gehabt. Sie hat an ein natürliches Recht geglaubt, nach Hitler das zerstörte und diskreditierte Land regieren zu können. Es kam anders. Denn ihre Figuren waren der invalide Schumacher und der zaudernde Ollenhauer, der bellende, selbstzweifelnde Wehner und der Professor Carlo Schmid. Politische Größen, sicher. Aber Volkstribune?
Der jungenhafte Willy Brandt hat die Lücke gesehen. Er, lebenslang ein Freund Amerikas, stützt die West-Orientierung der Partei, fährt im Wahl-Sonderzug durchs Land, schüttelt die Hände. Er geht wutentbrannt zum Tatort, als Ulbricht die Mauer bauen lässt. Er schenkt mit rauchigen Worten den verzweifelten „Berlinerinnen und Berlinern“ neue Zuversicht – anders als Adenauer, der sich in Bonn versteckt. Der Lohn der Mühen: Nach zwanzig Jahren christdemokratischer Regierungen in Bonn beginnt 1969 unter Brandts Führung die sozialliberale Ära. Sie will mehr Demokratie, will soziale Sicherung und eine neue Ostpolitik.
Der Kniefall vor den Opfern des Warschauer Ghettos. Der Jubel der Menschen in Erfurt, die nach „Willy“ rufen und nicht den DDR-Stoph meinen. Die Nobelpreisverleihung von Oslo. Es sind diese Bilder, die uns bis heute signalisieren: Brandt war der Friedenskanzler, der da seine Spur legte. Auch, wenn er dafür den Vorwurf der „Verzichtspolitik“ kassieren musste. Doch die Bilder trügen in ihrer Einseitigkeit.
Erst Treiber, dann Getriebener
Tatsächlich treibt die Brandtsche Politik in diesen Jahren das Land und die Partei ungeduldig vor sich her. Sie versetzt sie in Aufruhr und Emotionen. Am Ende werden ihre Maßstäbe das gesellschaftliche Handeln und die politischen Regeln von heute prägen. Ein Höchstmaß an Toleranz verlangt die ehrgeizige innenpolitische Reformagenda. Junge Menschen dürfen mit 18 statt mit 21 wählen. Schüler und Studenten erhalten Bafög. Ins Betriebsverfassungsgesetz wird die Mitbestimmung geschrieben. Homosexualität ist bald straffrei, und es kommt ein Scheidungsrecht, das die Vorrangstellung des Mannes kippt: Keine einseitige „Schuld“ lässt es mehr zu. Nur die „Zerrüttung“ einer Ehe.
Richtig feindlich wird das Klima, als die Regierung das Abtreibungsthema anfasst. „Schlachthof für Kinder“ skandieren die Gegner der geplanten Reform. Sozialdemokraten, Liberale, Frauenverbände, Gewerkschaften aber wollen die Fristenregelung mit dem möglichen Abbruch der Schwangerschaft bis zum dritten Monat.
Der letzte, große Sieg
Willy Brandt bekommt den äußeren Frieden. Innerer ist ihm nicht vergönnt. Fliehkräfte zerren an ihm. Konservative Sozialdemokraten wie Möller und Schiller werfen als Finanzminister hin, weil sie angesichts der Ölkrise das großzügige Ausgabeverhalten nicht billigen. Die Linke, vierzig Prozent der Parteitagsdelegierten, stellt die Machtfrage. Sie fordert die „Verstaatlichung der Produktionsmittel“ und „das Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen“. Marx pur. Abgeordnete von SPD und FDP verlassen die Regierungsfraktionen und gehen zur Opposition. Im Herbst 1972 verliert Genosse Brandt die Nerven: „Wenn das so weitergeht, könnt ihr euch einen neuen Vorsitzenden suchen“.
Noch wirkt Brandts Ausstrahlung: Junge beten ihn geradezu an. Straßenbahnfahrer haben aus Protest gegen das Misstrauensvotum ihre Triebwagen im Revier gestoppt. Aber das Kabinett ist ohne Mehrheit. Im Sommer ‘72 beginnt ein Wahlkampf ohne Beispiel. Die Anhänger heften sich orangefarbene Buttons („Willy wählen“) an die grünen Parkas. Plakate grüßen aus den Hecks der Käfer und 2CV. Dutzende Wählerinitiativen heben das Denkmal Brandt in den Kultstatus, bevor das Volk zur Urne geht.
90,2 Prozent der Wahlberechtigten stimmen schließlich ab. Das gab es nie zuvor. Die SPD wird zur stärksten Partei. Auch das war noch nicht da. Es wird der größte Wahlsieg in der sozialdemokratischen Geschichte. Und Brandt? „Von da an ging’s bergab“, sagt Freund Egon Bahr.
Der Spion ist nur ein Anlass
Der Autor Gregor Schöllgen beschreibt in seiner Biografie diesen persönlichen, eineinhalbjährigen Absturz im Detail. Ein Kanzler, erschöpft durch wechselnden Kampf um Machtgewinn und Machterhalt, wird krank. Er wird schwergewichtig, weil der Doktor ein Rauchverbot verhängt hat. Er „trinkt“, wie es im Bericht des US-Geheimdienstes für Henry Kissinger steht, ist „einsam“, längst „ein Einzelgänger“, urteilt die Schriftstellerin Luise Rinser. Tagelang verweigert Brandt die Arbeit. „Willy, regieren“, klopft Horst Ehmke an seine Schlafkammer, die der Regierungschef bewusst abgetrennt von der Familienwohnung im Kiefernweg eingerichtet hat.
Regiert man so eine Wirtschafts-Weltmacht? Brandt sei über den DDR-Spion Günter Guillaume gestürzt, sagen die Geschichtsbücher. Das ist nicht einmal die halbe Wahrheit. Eher haben Wehner, Schmidt, auch der FDP-Innenminister Hans-Dietrich Genscher, der in seinen Memoiren das dramatische Geschehen merkwürdig oberflächlich behandelt, im Laufe des Jahres 1973 gesehen, dass das persönliche Tief Brandts die sozialliberale Mehrheit gefährdet. „Der Herr badet gerne lau“ – der Satz von Wehner, in Moskau gesagt, ist ein Signal zum Kanzlersturz. Der enttarnte Spion, das Erpressungsrisiko, die Liste mit den Frauen-Abenteuern des Chefs: reale Fakten und fiktive Gefahren, benutzt als Mittel zum Zweck.
6. Mai 1974. Es ist Brandts letzter Arbeitstag. Der große politische, berufliche, auch persönliche Einschnitt. „Sehr geehrter Herr Bundespräsident“ , schreibt der Kanzler, er übernehme die Verantwortung für „Fahrlässigkeiten“ in der Spionageaffäre. Er bitte, „diesen Rücktritt sofort wirksam werden zu lassen“. Parteivorsitzender, kein schlechter, wird er noch lange sein, auch Führer der Sozialistischen Internationale, ein Dritte-Welt-Politiker. Brigitte Seebacher wird die dritte Ehefrau.
Ruth, die geduldige zweite, fragt spät am Rücktrittsabend ihren Mann, was dran sei an den ganzen Frauengeschichten. Eine Sache war da, sagt er ihr. Zwei Jahre habe es gedauert. Das sei jetzt zu Ende.
Auch Heli Ihlefeld, die Reporterin, will den gestürzten Kanzler erreichen. Nicht dienstlich. Sehr privat. Doch er verweigert nun jeden Kontakt. Sie war diese Geliebte.