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Freitag, vier Uhr morgens – die Autobahn ist fast leer. Ralf Dorfmann sitzt seit Stunden hinterm Steuer. Kilometer um Kilometer rast sein schwarzer Passat die eintönige Strecke entlang. Dorfmann kämpft gegen die drängende Müdigkeit. Nur noch 100 Kilometer trennen ihn vom ersehnten Urlaubsziel. „Die schaffe ich jetzt auch noch“, denkt er. Ein folgenschwerer Trugschluss. Dorfmanns Lider fallen zu, sein Wagen gerät aus der Spur. In diesem Moment setzt ein bohrender Signalton ein, im Rückspiegel blinkt ein Warndreieck und eine Computerstimme mahnt: „Müdigkeitswarnung: Halten Sie bei der nächsten Rastmöglichkeit an und machen Sie eine Pause!“ Dorfmann schreckt hoch und nutzt den Adrenalinschub, um rechts ran zufahren. Da geht das Licht an, die Projektion der Autobahn stoppt und der Student kann den Simulator verlassen.

Glück gehabt. Nicht selten enden solche Blackouts fatal: Jeder vierte tödliche Unfall in Deutschland geht auf das Konto eines so genannten Mikro- oder Sekundenschlafs berichtet eine Studie des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft. Allein in Deutschland fallen ihm jährlich über 1600 Autofahrer zum Opfer.

Seit Jahren tüfteln Techniker an Systemen, die das unkontrollierte Einnicken verhindern sollen. Um eine möglichst realistische Testsituation zu simulieren, sitzen Probanden wie Dorfmann in einem richtigen Auto. Die Straße mit Verkehr wird von hinten auf sechs Leinwände projiziert. Egal ob Tag, Nacht oder Nebel, Autobahn oder holprige Landstraße, dichter oder sporadischer Verkehr – hier kann fast jedes Verkehrsszenario täuschend echt simuliert werden. Vibrationen am Sitz und am Chassis erzeugen ein realistisches Fahrgefühl.

Forscher vom Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie in Ilmenau haben bereits vor drei Jahren ein Assistenzsystem vorgestellt, dass die Augenbewegungen des Fahrers beobachtet und ihn rechtzeitig vor dem Einnicken warnen soll. Dazu werten sechs Kameras bis zu 200 Bilder pro Sekunde aus, um die Blickrichtung zu erfassen, auch wenn der Kopf nach links oder rechts bewegt wird. Stellen die Kameras fest, dass das Auge länger als eine Sekunde geschlossen bleibt, löst das System Alarm aus. Doch wann der so genannte Eye-Tracker zur Serienausstattung neuer Autos gehören wird, bleibt ungewiss.

Müdigkeitsmessung via Lidschluss? Der Schlafforscher Jürgen Zulley sieht solche Ansätze ohnehin skeptisch: „Die Befürchtung liegt nahe, dass Assistenzsysteme den Fahrer in einer Scheinsicherheit wiegen, ohne die wichtigste Ursache des Sekundenschlafs wirkungsvoll zu bekämpfen: das Verhalten des Autofahrers. Der Fahrer weiß, das Gerät weckt ihn. Also fährt er, bis es anschlägt. Fragt sich nur: Schlägt es wirklich früh genug an?“ Nicht immer geht der Sekundenschlaf mit zufallenden Augenlidern und Nickreflex einher. „Es kommt regelmäßig vor, dass Autofahrer mit offenen Augen auf der falschen Straßenseite fahren oder in ein Stau-Ende rasen, ohne dies überhaupt bewusst wahrzunehmen“, weiß Zulley. Im EEG fallen solche Mikroschlafattacken anhand deutlich verlangsamter Gehirnströme auf. Die Betroffenen „schlafen“ mit offenen Augen und begehen Fehler, die sie sonst nicht machen würden. Die Einschränkungen in der Wahrnehmung und Reaktionsfähigkeit sind bei diesen Fahrern genauso groß wie bei denjenigen, denen die Augen wirklich zufallen.

Für Zulley fangen die eigentlichen Probleme viel früher an: „Müdigkeit hat vor allem etwas mit Erschöpfung zu tun, mit reduzierter Leistungsfähigkeit. In langen eintönigen Autobahnfahrten kommt nach der Müdigkeit die Schläfrigkeit. Wer dann nicht einschlafen darf, kämpft oft einen anstrengenden Kampf gegen sich selbst.“ Sekundenschlaf sei eine Notwehrreaktion des Körpers, der meist Schlafmangel, körperliche oder psychische Übermüdung vorausgingen. Bereits nach vier Stunden am Steuer verdoppele sich die Gefahr des Einschlafens, betont Zulley: „Wir vergessen oft, dass in unserem Körper seit Millionen von Jahren eine innere Uhr tickt“.

Gegen drei Uhr nachts erreicht derSchlafdruck sein Tagesmaximum

Spätestens um 23 Uhr bereitet sich der menschliche Organismus auf den Schlaf vor. Während Körpertemperatur und Blutdruck fallen, steigt das Schlafbedürfnis. Gegen drei Uhr nachts erreicht der Schlafdruck sein Tagesmaximum, die Leistungsfähigkeit dagegen ihren Tiefpunkt. Selbst routinierten Autofahrern unterlaufen jetzt törichte Fehler. Wer bei einer Fahrtgeschwindigkeit von 130 Stundenkilometern einnickt, legt in jeder Sekunde 36 Meter blind zurück. Zulley verweist auf den treffenden Begriff der Schlaftrunkenheit. „Eine Nacht ohne Schlaf wirkt auf unseren Körper genauso, als hätten Sie ein Promille Alkohol im Blut: Reaktionsvermögen und Aufmerksamkeit sinken drastisch. Die motorischen Leistungen werden gröber, Reaktionen unangemessen heftig.“

Das droht nicht nur nachts. Fast die Hälfte aller Sekundenschlaf-Opfer erwischt es am helllichten Tag. Auch wer sich am frühen Nachmittag mit vollem Magen hinters Steuer setzt, wird oft übermannt: von der Mittagsmüdigkeit. So endet manche „Mittagspause“ unverhofft im nächsten Straßengraben.

Nicht nur Jürgen Zulley, auch andere Wissenschaftler stimmen darin überein, dass wir unseren biologischen Bedürfnissen wieder mehr Beachtung schenken müssen. Nur wenn wir uns Zeit für nötige Ruhephasen nehmen, können wir den lebensgefährlichen Blackout auf der Straße verhindern. Gönnen Sie sich also regelmäßig ein kleines Nickerchen. Es kann (Ihr) Leben retten.