Berlin. Der abgekämpfte Gymnasiallehrer Germain hat sich längst damit abgefunden, dass er seine pubertierenden Schüler nicht für Literatur begeistern kann. Doch als er sie eines Tages einen Essay über ihr vergangenes Wochenende schreiben lässt, ist er wie elektrisiert, als er den Aufsatz des stillen Hinterbänklers Claude korrigiert.
Der abgekämpfte Gymnasiallehrer Germain hat sich längst damit abgefunden, dass er seine pubertierenden Schüler nicht für Literatur begeistern kann. Doch als er sie eines Tages einen Essay über ihr vergangenes Wochenende schreiben lässt, ist er wie elektrisiert, als er den Aufsatz des stillen Hinterbänklers Claude korrigiert. Der beschreibt haarklein, wie er sich das Vertrauen seines Mitschülers Rapha erschleicht und in dessen Haus herumschnüffelt. So beginnt in der schwarzen Psychokomödie "In ihrem Haus " eine abgründige Lehrer-Schüler-Intrige.
Germain ist zwar befremdet über den Voyeurismus des Jünglings, der mit spöttischem Unterton etwa die Dame des Hauses als "Frau mit dem typischen Duft des Mittelstandes" beschreibt. Wichtiger ist dem Lehrer aber die stilistische Vervollkommnung von Claudes Text. Er nimmt den talentierten Knaben unter die Fittiche, regt ihn zu weiteren Aufsätzen an - und wird zu seinem egoistischen Mentor, der sich nicht im Geringsten für die Motive des einsamen Jungen, der sich nach familiärer Zuneigung sehnt, interessiert. So macht Claude weiter und wird beim Ausspionieren von Raphas Familie immer kecker.
Herrlich doppelbödige Tragikomödie über Literatur und Leben
Das französische Wunderkind François Ozon hat eine herrlich doppelbödige Tragikomödie über Literatur und Leben gedreht, die an seinen Erfolgsfilm "Swimming Pool" erinnert, aber noch raffinierter ist. Denn Claude spinnt, zumindest die meiste Zeit, keine Fantasien, sondern agiert in der Realität, einzig mit dem Ziel, darüber zu schreiben und die Anerkennung seines Lehrers zu erlangen. Wird Germain zunächst von Claude manipuliert, so dreht sich ihr Verhältnis allmählich um. Germain, süchtig nach Claudes Fortsetzungsroman, regt ihn zum Beispiel an, sich auf "den inneren Kampf der Figuren" zu konzentrieren. Das bedeutet, dass Claude Konflikte in Raphas durchaus harmonische Familie bringen muss, damit sein Bericht dramatischer ausfällt. Angeregt von Germains Roman-Leseempfehlungen, entwickelt der Junge außerdem eine schwärmerische Liebe für Raphas Mutter Esther. Und Germain begibt sich in der Schule auf gefährliche Abwege.
Virtuose Karikatur eines frustrierten Paukers
Fabrice Luchini (bekannt aus Ozons Komödie "Das Schmuckstück") gibt als gescheiterter Schriftsteller Germain eine virtuose Karikatur eines frustrierten Paukers, der angesichts Claudes Erzählungen aufblüht. Ernst Umhauer, ein hübscher Knabe mit engelhaftem Gesicht, stellt Claude teils als ausgekochtes Früchtchen dar und teils als verwundbares Kind. Auch die Nebenfiguren sind perfekt besetzt: Emmanuelle Seigner spielt die Mutter von Rapha, Oscar-Gewinnerin Kristin Scott-Thomas gibt Germains Ehefrau Jeanne, die Stimme der Vernunft. Mit Jeanne, der erfolglosen Kunstgalerie-Managerin, weitet sich die schwarze Komödie zur sardonischen, an Woody-Allen-Filme erinnernde Betrachtung der schönen Künste und des kulturbeflissenen Milieus.
Macht Fiktion das Leben erträglicher?
Doch auch sonst wirft Ozons maliziöses Psychospiel beunruhigende Fragen auf: Sind Romane (und Filme) im Grunde gesellschaftlich akzeptierter Voyeurismus? Macht Fiktion das Leben erträglicher - oder handelt es sich um Eskapismus, der die Qualen eines ungelebten Lebens noch steigert? Getreu den Lektionen von Lehrer Germain, der selbst nicht schreiben kann, aber weiß, wie es geht, vermeidet auch Ozon Klischees. Sein Film, der sich zum fiesen Psychothriller zu entwickeln scheint, überrascht mit einem Ende, das, wie im wahren Leben, weniger tragisch als tragikomisch ist. ("In ihrem Haus", Frankreich 2012, 105 Minuten, Prädikat: wertvoll, FSK: 12, Verleih: Concorde, Regie: François Ozon, Darsteller: Fabrice Luchini, Kristin Scott Thomas, Ernst Umhauer, Emmanuelle Seigner Denis Menochet, Bastien Ughetto) Kinostart: 29. November 2012 (dapd)