Essen.

Deutschland, nein, ganz Europa muss sparen. Können wir unseren hohen Lebensstandard dann noch halten? Und geht es uns wirklich so schlecht? Eine Bestandsaufnahme.

Es geht zur Sache in Berlin. Die schwarz-gelbe Koalition will an diesem Wochenende ihren Sparkatalog anlegen wie es andere EU-Staaten auch gerade tun. Die Angst geht um in Deutschland: Müssen wir wirklich Abschied vom Wohlfahrtsstaat nehmen, wie es die New York Times den Europäern voraussagt? „Pushed out of the comfort zone“, schreibt sie. Ganz frei übersetzt: Vertrieben aus dem Paradies.

Vielleicht ist es sinnvoll, eine Bestandsaufnahme über unsere paradiesischen Zustände zu machen, unseren Wohlstand mal nicht zu vergleichen mit dem Kollegen im besseren Wohnviertel, sondern mit dem unserer Eltern. Wer die Entwicklung über Jahrzehnte vergleicht, die Statistiken des Bundes, der Länder und der Wirtschaftsforscher auswertet, sieht: Das Leben in Deutschland ist nicht schlechter geworden. Oft besser. Und natürlich einfach anders. Ein paar Fakten, die Anlass zum Nachdenken geben.

Wir leben länger

Die Lebenerwartung war noch nie so hoch. In den 50er-Jahren lag sie unter dem Rentenalter. Heute geborene Jungen werden im Schnitt 77,2 Jahre alt, Mädchen gar 82,4 Jahre. Tendenz: aufwärts. Das ist besserer Medizin und einer Ärzte-Dichte (plus 30 Prozent seit 1990) zu verdanken, die ihresgleichen sucht – und einer gesunden Lebensweise, die sich langsam durchsetzt.

Wir leben gesünder

Nicht immer, aber immer öfter. In nur 15 Jahren ist die Sterblichkeit bei Herzerkrankungen um 33 Prozent (Männer) bzw. 45 Prozent (Frauen) gesunken. Vielleicht, weil der Herzschrittmacher perfekter ist? Oder doch, weil der Wohlstandsbauch schrumpft? In den letzten 30 Jahren reduzierten die Deutschen den Alkoholkonsum um ein Drittel, Exzesse ausgenommen. Vom Rauchen nicht zu reden. 75 Prozent der Deutschen bezeichnen sich als Nichtraucher. In den 70er-Jahren war noch die große Mehrheit Raucher.

Wir leben aktiver

Sind Rentner noch immer arme, gebrechliche Balkonblumenzüchter? Um 1960 waren zwei Drittel der Neurentner vermindert erwerbsfähig. Heute? Nur jeder sechste. Und von arm kann auch nur bei einer Minderheit die Rede sein. 51 Prozent haben Wohneigentum. Geld hat – im Schnitt, wohlgemerkt – ein deutscher Rentner alltags gerade acht Euro weniger in der Tasche als ein Erwerbstätiger.

Wir wohnen komfortabel

Zumindest können wir uns ausbreiten. Genügten in den 60er-Jahren 22 Quadratmeter pro Kopf, sind es heute 43 im Schnitt. Zentralheizung, Bad, WC – das sind (natürlich zu bezahlende) Selbstverständlichkeiten, inzwischen auch in Ostdeutschland. 40 Prozent der Menschen in NRW haben Wohneigentum, 56 Prozent – Top-Wert - sind es im Saarland. Vor allem die letzten zehn Jahre haben hier dramatische Veränderungen gebracht: 3,3 Millionen Nordrhein-Westfalen verfügten 1998 über privaten Immobilienbesitz. Heute sind es vier Millionen. Durchschnittswert eines Eigentums: 248 000 Euro. Allerdings sinkt die Eigentumsquote gerade unter den Jüngeren wieder.

Wir sind mobil

77,2 Prozent aller deutschen Haushalte haben ein Auto. Das sind 12 Prozent mehr als vor zwanzig Jahren. Heute sind in NRW mit zehn Millionen Pkw zwei Millionen mehr als 1990 gemeldet. Für alle Fälle (Eisglätte, Führerscheinentzug, Umweltzonen) haben 79 Prozent der Haushalte noch ein Fahrrad im Keller, in der Garage oder im Hausflur geparkt.

Wir mögen es bequem

Mit Kühlschrank und TV mindestens. 98 Prozent der Rheinländer und Westfalen haben Eisfächer zur Verfügung. Fast genau so hoch ist die Ausstattung mit Fernsehern. Im Detail macht sich aber hier eine Trendwende bemerkbar: Die Zahl der Kabelfernseh-Nutzer ist binnen zehn Jahren von 53 auf 45 Prozent gesunken. Die Liebhaber des Satelliten-TV nehmen zu. Bei fast jedem dritten Haushalt (27 Prozent) spielt das Muckis-Machen eine Rolle: Es steht ein Heimtrainer im Keller.

Wir lieben es online und kommunikativ

Jetzt sind wir bei der Erfolgsstory der letzten Jahre. 1998 hatten 40 Prozent der Haushalte einen „Heimcomputer“. Heute sind es genau 77,7 Prozent. 68,2 Prozent der Einwohner an Rhein und Ruhr „gehen online“. 39 Prozent vergnügen sich mit einem MP3-Player. Geradezu kometenhaft ist der Aufstieg des Handys. Erst 1998 hatten 12 Prozent der Bevölkerung ein Mobiltelefon. Heute? 89,3 Prozent. Die meisten sind doppelt zu erreichen: 90 Prozent telefonieren auch noch im Festnetz (mit leicht sinkendem Trend.

Wir pflegen die Umwelt

Eine verwegene Behauptung? Sicher: CO2-Belastung, Feinstaub, die zubetonierte Fläche - Experten erkennen immer neue Gefahren. Anderes wurde eindeutig besser. Die Schadstoffbelastung der Luft ging seit 1990 um 60 Prozent zurück. Der Waldbestand wächst. Der Einsatz erneuerbarer Energien hat sich binnen acht Jahren auf 16 Prozent des Stromverbrauchs verdoppelt. Willy Brandts blauer Himmel über der Ruhr ist wirklich blau, nicht quittegelb. Und erinnern Sie sich an die Kloaken vor der Haustür? Fische aus dem Rhein waren ungenießbar – wenn es sie gab. Heute tummeln sich 700 Lachse im Niederrhein und 300 Kleintierarten. Das Leben kehrt zurück. Auch, weil die Schadstoffbelastung von Arsen bis Quecksilber sank und Alarmpläne funktionieren.

Wir wissen mehr

Unser Bildungsstandard sieht - siehe UN-Bericht - nicht spektakulär aus. Bei den Ausgaben dafür stehen die Deutschen mit 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im letzten Drittel des weltweiten Vergleichs. Doch dann die Überraschung: Die Zahl der Gymnasiasten war nie so hoch. Im Schuljahr 08/09 besuchten 2,4 Millionen Schüler das Gymnasium, 1,2 Millionen Realschulen, nur noch 825 000 Hauptschulen. Mehr als die Hälfte aller Schüler macht das Abi. Vor allem Frauen. Wird Deutschland doch noch zum Land der GebildetInnen?

Wir können sicher sein...

Eingeräumt: Angst vor Kriminalität und Unfällen ist weit verbreitet. Brutale Körperverletzungen und Betrug nehmen auch zu. Aber das ist die Ausnahme. Tatsächlich wird Deutschland Jahr für Jahr sicherer: 30 Prozent weniger Mord und Totschlag als 1990. Die Zahl der Wohnungseinbrüche hat den Tiefstand von 1971 erreicht. Mittelklasse-Autos werden kaum noch geknackt (wg. Wegfahrsperren, Radio-Codes). Die Korruption sinkt, meldet das Bundeskriminalamt. Die Zahl der tödlichen Unfälle im Straßenverkehr ging in vierzig Jahren von 20 000 auf unter 4000 im Jahr 2009 zurück. Die Zahl der Arbeitsunfälle? Stürzt ab.

...und haben wenig Feinde

Noch 1983 galten die Bedingungen des Kalten Krieges, das Gleichgewicht des Schreckens. Die harmlose Militärübung „Able Archer” hätte bald zum nuklearen Inferno geführt. Und ein weltweiter Atomkrieg hätte sich damals vor allem auf dem Territorium des geteilten Deutschland abgespielt. Vorwarnzeit bei einem Raketenangriff: drei Minuten. Überlebenschance: Null. Heute sind die Luftschutzsirenen verschrottet.

Schon gut. Aber das alles hat viel Geld gekostet, das wir heute nicht mehr haben

Richtig ist: Die Einkommen und Löhne sind in den letzten Jahren nicht gestiegen, sondern real gesunken. Im langjährigen Vergleich zeigt sich aber, dass wir heute ungleich mehr im Wohlstand leben als unsere Eltern. Noch 1970 hatte eine Familie aus der Mittelschicht preisbereinigt die gleiche Kaufkraft zur Verfügung wie heute eine Hartz IV-Bedarfsgemeinschaft. Für Freizeit, Unterhaltung und Kultur geben die Deutschen 14 Prozent mehr aus als noch 1990, für unser tägliches Brot dagegen immer weniger: Unter zehn Prozent der Ausgaben gehen für die Nahrung weg. KeinWunder: Für 250 Gramm Butter arbeiteten die Menschen im Jahr 1950 eineinviertel Stunde. Heute sind es fünf Minuten.