Sinah Schürmann und Sebastian Kahlfus haben eine geistige Behinderung. Hier reden die beiden Hattinger über ihren Alltag.
Sie sind deutschlandweit die wohl ersten zwei Menschen mit einer geistigen Behinderung, die zu einem Stadtprinzenpaar proklamiert worden sind: Sinah Schürmann (21) und Sebastian Kahlfus (24) regieren in der aktuellen Karnevals-Session die Hattinger Jecken. WAZ-Redakteurin Sabine Kruse sprach mit den beiden über Reaktionen auf ihre Proklamation und ihre Vorreiterrolle, aber auch über ihr ganz normales Alltagsleben.
Sinah, Sebastian, wie geht es Ihnen?
Sebastian: Gut (Sinah nickt).
Sebastian, Sie leben seit Anfang des Jahres in einer Wohngemeinschaft der Lebenshilfe. Haben Sie sich inzwischen gut eingelebt?
Sebastian: Ja, sehr gut sogar. Die anderen drei Bewohner – Lars, Nico und Karl – sind alle meine Freunde geworden. Wir kochen auch Leckeres zusammen in unserer großen Küche: Pizza. Und kurz nach dem Einzug haben wir eine Einweihungsparty gemacht, zu der hatte ich auch Sinah eingeladen.
Sinah: Stimmt, doch an dem Tag konnte ich nicht. Aber ich habe Fotos und Videos von der WG gesehen, sieht wirklich nett aus dort.
Wäre so eine WG auch was für Sie?
Sinah: Ja, warum nicht? Ich könnte irgendwann schon auch mal nicht mehr zu Hause leben und nicht wie jetzt zusammen mit meiner Mutter. Aber so was muss man ja nicht überstürzen, ich habe ja einen guten Draht zu meinen Eltern.
Sie sind beide ja längst nicht nur im Karneval aktiv. Wie sieht ein typischer Tag von ihnen denn so aus?
Sinah: Ich frühstücke morgens erst, dann gehe ich zur Arbeit im Emmy-Kruppke-Altenheim in Welper, arbeite dort von acht bis Viertel nach drei. Zu Fuß brauche ich zehn Minuten von zu Hause, mit dem Auto sind es fünf.
Mit dem Auto?
Sinah: Ja, ich habe im Januar meinen Führerschein gemacht. . .
Sebastian (unterbricht): . . . bei Frank Kahlfus, meinem Vater . . .
Sinah: . . . und danach habe ich mir einen Gebrauchtwagen gekauft, einen Renault Twingo in Brombeer-Metallic.
Sebastian: Wow! Ich habe mich auch richtig gefreut für Sinah, dass sie das geschafft hat. Mein Vater hat ja versucht, mir auch das Autofahren beizubringen. Kuppeln und Bremsen geht schon, aber mit dem Schalten ist es schwierig,
Zurück zu Ihrem Alltag, Sinah. Was genau machen Sie im Emmy-Kruppke-Heim?
Sinah: Ich verteile Frühstück an die Bewohner, dann gibt es gesellige Runden mit Gesprächen und Spielen. Ich brauche dieses Soziale, mir gefällt das gut. Und auch wenn die Bewohner es nicht alle sagen: Man merkt, dass sie sich freuen, dass sich jemand mit ihnen beschäftigt. Manche lächeln mich, ihr Sinchen oder Schätzelein, einfach nur glücklich an. Das freut mich auch.
Und wie sieht ein typischer Arbeitstag von Ihnen aus, Sebastian?
Sebastian: Ich stehe um sechs Uhr auf, dusche, mache mir Brote, fahre dann jeden Morgen um Viertel vor sieben mit dem Bus zur Awo-Werkstatt Stefansbecke in Sprockhövel. Von acht bis kurz nach drei stecke ich Hülsen – die sind für automatische Türen – zusammen, 100 bis 200 in der Woche. Manchmal kann ich auch mit dem Fahrer der Großküche Enculina mitfahren und Essen ausliefern an die Awo-Kindergärten, das macht mir mehr Spaß. Nach der Arbeit räume ich mein Zimmer auf, wasche Wäsche, besuche mal meine eine, mal die andere Oma.
Volles Programm . . .
Sebastian: Ja. Und ich bin auch Betreuer der A1-Jugendfußballer der JSG Welper/Blankenstein und im Schützenverein SV Holthausen. Mit dem Luftgewehr habe ich schon 301 Ringe geschafft.
Klasse! Haben Sie außer dem Karneval auch weitere Hobbys, Sinah?
Sinah: Zurzeit nicht. Ich nehme aber regelmäßig an den Freizeitaktivitäten der Lebenhilfe teil. Eine Zeit lang habe ich auch bei einer Laienspielgruppe mitgemacht, aber die gibt es nicht mehr. Und ich war mal in einer Tanzgruppe, die hat Musical Dance gemacht, die ist aber jetzt in Essen. Dieses Tanzen hat mir sehr viel Spaß gemacht.
>>> Karneval ist ihre große Leidenschaft
Hinzu kommt bei Ihnen beiden eine große Leidenschaft für den Karneval. Wie hat denn Ihr Umfeld reagiert, als Sie Anfang November nach zwei Sessionen als Lebenshilfe-Prinzenpaar in der Schulenburg zum neuen Stadtprinzenpaar gekürt wurden?
Sebastian: Alle, die da waren, waren erst mal ein bisschen sprachlos (Sina nickt zustimmend). Und die Wattenscheider Prinzessin hat geweint (vor Freude, Anmerkung der Redaktion). Auch in der Werkstatt waren alle überrascht. Einige haben zu mir gesagt, dass sie nun Autogrammkarten haben wollen und uns mal live erleben möchten.
Und was haben Sie selbst gedacht, als Thomas Behling und Thomas Kohl vom Aktivenkreis Holthauser Rosenmontagszug Ihnen dieses Amt angetragen haben?
Sinah: Ich war wirklich überrascht, aber ich habe mich auch sehr gefreut. Ich habe sofort gedacht: Klar, machen wir das.
Sebastian: Ich habe zuerst meinen Bauch angeguckt und gedacht: Als Prinz musst du jetzt erst mal ein bisschen abnehmen, weniger Kekse essen und mehr gesundes Obst und Gemüse. Denn ein Prinz muss ja schlank sein. Und zwei halbe Kilo sind ja auch runter (lacht).
Hatte tatsächlich keiner von Ihnen beiden Angst vor Vorbehalten aus der Öffentlichkeit, vor negativen Reaktionen?
Sinah: Nein. So was erlebe ich manchmal zwar, dass Menschen mir aus dem Weg gehen wegen meiner Behinderung, Aber wenn das passiert und mich stört, spreche ich sie schon mal darauf an. Man muss ja nicht best friend (bester Freund, Anmerkung der Redaktion) werden, aber man sollte wenigstens miteinander reden können. Als Lebenshilfe-Prinzessin habe ich aber nie Vorbehalte gegen mich gespürt.
Sebastian: Ich hab’ als Karnevalsprinz auch nur positive Reaktionen erfahren.
Sehen Sie Ihre Zeit als Stadtprinzenpaar eigentlich auch als Chance, einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen, dass auch Menschen mit einer Behinderung jede Menge können?
Sinah : Ja. Deswegen haben wir uns ja auch ein besonderes Mottolied ausgesucht: „Normal kann jeder“ von den Zipfelbuben. Das ist auch eine Lebenseinstellung.
Sebastian hat inzwischen auf seinem Handy das dazugehörige Video aufgerufen, spielt es ab. Beide beginnen zu singen: „Zieh’ den grauen Mantel aus, hol’ das bunte Leben raus, schmeiß die Sorgen über Bord, jag’ dein altes Leben fort, jeder Traum wird heut’ gelebt . . .“