Bochum. Evelyne Cynk möchte nach Irland auswandern. Der Streit um die Kostenübernahme für ihre Assistenz hat sie in eine schwierige Lage gebracht.
„Evelyne Cynk hat einen Traum. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als nach Irland auszuwandern, auf die grüne Insel.“ Das schrieben wir im vergangenen Juni über die 35-Jährige aus Bochum, die wegen einer Schwerbehinderung auf eine 24-Stunden-Assistenz angewiesen ist. Heute sitzt Evelyne Cynk immer noch in Bochum und ist verzweifelt. Denn ihr stellen sich immer neue Hürden entgegen im Kampf, endlich ihr Europäisches Recht auf Freizügigkeit wahrzunehmen. Bittere Ironie: In Deutschland steht sie kurz vor der Räumungsklage durch das Akademische Förderungswerk Bochum (Akafö), da sie hier keine Studentin mehr ist und ihr Mietvertrag nicht verlängert werden kann; in Irland hingegen stünde sofort eine barrierefreie Wohnung zur Verfügung, wenn man sie auswandern ließe. „Bis Januar eine Alternativwohnung zu finden, ist in meiner Lage mit 24-Stunden-Assistenz und Schwerbehinderung unmöglich“, sagt die Behindertenaktivistin. Sie benötigt in der Wohnung ein Assistenz-Zimmer und eine ebenerdige Dusche.
Recht auf Freizügigkeit wird für Menschen mit Behinderung ausgehebelt
Der Fall ist nicht ganz einfach, aber ein trauriges Beispiel dafür, wie die innereuropäische Zusammenarbeit der Institutionen scheitert, weil EU-Recht und deutsches Recht sich gegenseitig ausbremsen. Man erzählt die Geschichte am besten kurz von vorne: Evelyne Cynk liebt Irland schon seit ihrer Jugend. Auch, weil sich ihr dort Chancen als Schriftstellerin eröffnen, die sie in Deutschland so nicht hätte. Sie hat eine Zusage für einen Master-Studienplatz am renommierten University College Cork (UCC) für Kreatives Schreiben, die nun schon zweimal erneuert wurde, Anfang September hätte sie dort wieder ihr Studium beginnen können. „Ich habe an einer Elite-Uni dreimal einen Platz bekommen“, sagt Cynk nicht ohne Stolz. Sie hatte zudem Praktikums-Zusagen und Jobangebote. Und nach fünf Jahren vor Ort könnte sie in Irland eingebürgert werden – und die deutschen Institutionen wären danach von allen Sozialkosten für Evelyne Cynk befreit.
Der Haken an der Sache: Evelyne Cynk ist aufgrund ihrer Schwerbehinderung eben auf eine 24-Stunden-Assistenz angewiesen, deren Kosten hier in Deutschland vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) getragen werden. Damit die Betreuung in den fünf Jahren bis zur Einbürgerung in Irland gewährleistet wäre, hat Evelyne Cynk einen Antrag auf Übernahme der Kosten für Assistenzleistungen im Ausland gestellt. Der wurde jedoch vom Inklusionsamt Soziale Teilhabe des LWL abgelehnt. Denn nach § 104 Absatz 5 des Sozialgesetzbuchs dürfte der Aufenthalt im Ausland nur vorübergehend und nicht permanent angestrebt sein. Sprich: Für ein Auslandssemester wäre eine Kostenübernahme unter gewissen Voraussetzungen kein Problem, da Evelyne Cynk aber dauerhaft in Irland leben möchte, wird dies nicht genehmigt. Ein Paragraf, der im Konflikt mit dem EU-Recht auf Freizügigkeit steht, da er es faktisch verhindert, dass sich Menschen mit Schwerbehinderung und Anspruch auf Assistenz frei in der EU bewegen können. Ebenso steht er im Widerspruch zu mehreren Artikeln der UN-Behindertenrechtskonvention sowie mit der neuen EU-Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2021-2030.
Irischer Pflegedienst HSE macht einen Rückzieher - nach vorheriger Zusage
Da Cynk hier ohne eine Klage nicht weitergekommen ist und diese im Moment noch scheut, wurde sie an anderer Stelle aktiv: Sie verhandelte mit dem irischen Kostenträger Health Service Executive (HSE) in Cork und bekam nach einer ersten mündlichen Zusage dann am 11. September, dem Tag, an dem ihr Studium hätte beginnen sollen, doch eine schriftliche Absage. Patrick McEvoy, Manager für die Behindertendienstleistungen beim HSE in Cork, begründete die Absage mit mangelndem Budget, was zuvor kein Problem zu sein schien. Trotz des persönlichen Einsatzes von Ciarán Cuffe, Mitglied des Europäischen Parlaments für ihre Belange, ist auch hier zunächst kein Weiterkommen.
Um sich den langwierigen und kostspieligen Weg einer Klage zu ersparen, hat Evelyne Cynk schon nach europäischen Präzedenzfällen gesucht, doch es scheint, sie ist die erste EU-Bürgerin mit Schwerbehinderung und Assistenzbedarf, die künftig in einem anderen Land leben möchte. Sie wünscht sich eine breitere Unterstützung aus der deutschen Politik, wo bisher nur der CDU-Politiker und Aktivist Steffen Helbing den Fall von Evelyne Cynk im Bundestag vorgetragen hat. „Wenn mein Fall durchkommt, würde er das Recht auf Freizügigkeit für alle Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf in Europa herstellen. Angesichts dessen finde ich es schon recht traurig, so wenig Unterstützung zu bekommen“, so Cynk.
Der deutsche Staat könnte langfristig 10 Millionen Euro Sozialkosten sparen
Sie argumentiert auch ökonomisch: Bei gleichbleibenden Assistenzkosten und einer vorsichtig geschätzten Lebenserwartung von weiteren 40 Jahren würde sie dem deutschen Staat mehr als 10,3 Millionen Euro Kosten bereiten. Im Gegensatz dazu stünden 1,3 Millionen Euro, die sie im Falle der Auswanderung in den kommenden fünf Jahren bis zur Einbürgerung nach Irland verursachen würde. Langfristig gesehen könnten in Deutschland also gut 9 Millionen Euro an Leistungen eingespart werden. Außerdem würde Cynk in Deutschland keine Kosten für Ärzte, Krankengymnastik und Hilfsmittel mehr verursachen. Hinzu kommt noch: Die Betreuung durch den irischen Assistenzdienst Home Care Direct (HDC) wäre laut Kostenvoranschlag sogar noch kostengünstiger als hier in Deutschland: Pro Monat würde allein eine Ersparnis von 1000 Euro entstehen – auf 60 Monate gerechnet also 60.000 Euro.
Während Evelyne Cynk weiter dafür kämpft, dass der irische HSE die Assistenzkosten für ihre Betreuung übernimmt und sich parallel auf eine Klage gegen den LWL vorbereitet, muss sie sich mit der realen Gefahr auseinandersetzen, vom Akafö in Bochum mit einer Räumungsklage in nächster Zeit vor die Tür gesetzt zu werden. Die Position des Akafö ist nach deutschem Recht sogar verständlich, denn Cynk hat ihren Bachelor in Heilpädagogik (Bachelor-Arbeit: „Auswandern mit Behinderung“) abgeschlossen. Nur wäre hier sicherlich nach Kenntnis des Falls ein wenig mehr Fingerspitzengefühl und Kulanz gefragt – denn bekanntermaßen will Cynk ja gar nicht in Bochum bleiben.
„Ich kämpfe für alle EU-Bürgerinnen und -Bürger mit Behinderungen, die in der EU Chancen wahrnehmen wollen, die Ihnen die Möglichkeit bieten, ihr volles Potenzial zu erreichen und Karrieren zu verwirklichen. Was für manche die Möglichkeit bedeutet, Träume zu verwirklichen und in naher Zukunft staatsunabhängig zu leben!“
Evelyne Cynk hat eine Spendenaktion für ihre Assistenz während ihres Studiums und die generelle Aufklärung ihres Falles gestartet, der repräsentativ für mehrere Fälle innerhalb Europas steht:gofund.me/b6647fa0
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