Essen. New Model Army wollten eigentlich nie mit einem Orchester zusammenspielen – und haben es jetzt doch getan. Ihr Album „Sinfonia“ ist überwältigend.

Indie- und Punk-Fans kennen New Model Army für unvergängliche Tanzflächenhits wie „Vagabonds“ oder „51st State“, längst steuern sie stramm darauf zu, 45 Jahre auf der Bühne zu feiern, meist vor mehrfach ausverkauften Hallen wie dem Kölner Palladium. Ihre hochemotionale Mischung aus Punkrock, Folk, Metal und zig anderen Stilen macht sie zu gerngesehenen Gästen bei Festivals wie Wacken, dem Wave-Gotik-Treffen beim punkigen Ruhrpott-Rodeo oder dem Mini-Woodstock auf Burg Herzberg. Nur eins hatte die Band bisher vermieden: Ihrem Sound einen Klassik-Anstrich zu geben, auch weil Sänger Justin Sullivan irgendwann zu der durchaus wahren Erkenntnis gekommen ist: „Es gibt viele Beispiele von Rockbands, die mit Orchestern spielen. Aber nicht viele gute.“ Insofern hatten auch New Model Army nicht wirklich Interesse, ein solches Experiment zu wagen. Dass sie dennoch im Sommer 2022 im Berliner Tempodrom mit dem Leipziger Sinfonia-Orchester auf der Bühne standen und einen atemberaubenden Orchester-Trip durch ihren 250 Songs umfassenden Songkatalog (hier zu hören: „Innocence“)gegeben haben, davon erzählte Justin Sullivan im Interview mit Georg Howahl – und ging auch auf die Frage ein, ob das noch Punkrock ist. Das Konzert ist gerade als Doppel-CD/DVD „Sinfonia“ (eAr-Music) erschienen.

Mr. Sullivan, wie man gehört hat, waren Sie anfangs gar nicht begeistert von der Idee, mit einem Orchester zusammen zu spielen. Was hat Ihre Meinung geändert?

Justin Sullivan: Das Konzert und dieses Album waren nichts, das wir von uns selbst aus machen wollten. Es war etwas, das unsere Freundin und langjährige Gast-Violinistin Shir-Ran Yinon unbedingt verwirklichen wollte. Sie hatte schon zwei Jahre zuvor damit begonnen, die Arrangements zu schreiben. Aber dann kam Covid, und es ist erstmal nichts passiert. Sie hatte sich aber so viel Arbeit mit den Arrangements gemacht, dass sie sogar noch am selben Morgen daran gefeilt hat, an dem die Proben im Berliner Tempodrom begannen. Wir selbst waren in die Vorbereitungen gar nicht so sehr involviert, bis wir vor Ort waren, weil wir parallel an unserem nächsten Studio-Album gearbeitet haben.

Justin Sullivan von New Model Army beim Interview (Archivbild).
Justin Sullivan von New Model Army beim Interview (Archivbild). © WAZ FotoPool | Sebastian Konopka

Hatten Sie eine genaue Vorstellung davon, wie es klingen sollte?

Das Wichtigste war uns, dass es nicht wie eine orchestrale Version von New Model Army klingen sollte. Und zugleich nicht zu sehr, als hätte New Model Army jetzt nur ein Orchester im Rücken. Wir wollten als New Model Army das Orchester direkt in unserer Mitte haben. Und das sieht und hört man sicherlich auch auf den Aufnahmen.

Das Leipziger Sinfonia-Orchester unter Leitung von Cornelius During gemeinsam mit New Model Army beim Konzert im Berliner Tempodrom 2022.
Das Leipziger Sinfonia-Orchester unter Leitung von Cornelius During gemeinsam mit New Model Army beim Konzert im Berliner Tempodrom 2022. © Jochen-Melchior | Jochen-Melchior

War es trotzdem schwierig, sich in nur zwei Tage Probezeit mit dem Orchester, die sie hatten, aufeinander einzustellen?

Es ist etwas vollkommen anderes, wenn man plötzlich vor einem Orchester steht und mit ihm zusammenspielen soll. Ich denke, viele der Orchestermusiker wussten nicht genau, womit sie es zu tun hatten und hatten vielleicht gerade mal etwas von der Band gehört. Aber dann haben sie die Musik einfach gespielt – und Cornelius During als Leiter des Orchesters hat einen brillanten Job abgeliefert, er hat wirklich darüber nachgedacht, wie wir es ans Laufen bringen konnte. Als wir gemeinsam angefangen haben zu spielen, haben wir uns ein wenig erschrocken, wie laut wir waren. Aber es hat funktioniert.

Und die Chemie hat auch gestimmt?

Wir haben keine Grenzen gezogen zwischen uns und dem Orchester, wir haben uns einfach untergemischt. Weißt du, wir sind alle Musiker – und Musiker interessieren sich nun mal für andere Musiker.

Das Artwork des Album stammt, wie immer, von Künstlerin Joolz Denby.
Das Artwork des Album stammt, wie immer, von Künstlerin Joolz Denby. © dpa | -

Gab es besondere Hürden zu überwinden?

Ich fand gerade das Singen sehr schwierig. Wo sind meine Einsätze? Wo sind wir gerade im Song? Ich lese ja normalerweise keine Musik vom Blatt ab. Deshalb haben wir auch ein paar Sachen falsch gemacht, aber es hat das Konzert nicht beeinträchtigt. Wir sind nach den Proben in die Umkleideräume gegangen mit dem Orchester und haben gesagt: Wir haben so viel geprobt, wie wir es in der kurzen Zeit machen konnten. Wir hatten zwei Tage – und jetzt müssen wir uns daran erinnern, dass es immer noch Punk-Rock ist. Wenn wir mal einen Fehler machen, dann ist das nicht das Ende der Welt. Es kommt doch auf den Geist an, in dem wir das alles spielen. Und ich glaube, davon fühlten sich alle wirklich befreit, die Band und das Orchester.

Sie sind ja bekannt unter anderem für streicherlastige Songs wie „Vagabonds“, „Green And Grey“ oder „Purity“, die man bei einem solchen Konzert wohl kaum hätte aussparen können, ohne das Publikum zu enttäuschen. Wir kommt es, dass Sie auch eine raue Rarität aus den frühen 80ern wie „Shot 18“ mit in den Abend eingebaut haben?

Das war eigentlich eine recht zufällige Auswahl; ich glaube, Shir-Ran Yinon wollte gern, dass wir den Song spielen. Wir haben ihn wahrscheinlich seit 35 Jahren nicht mehr live gespielt, da erschien uns das als eine ganz gute Idee. Aber von den Versionen an diesem Abend gefiel mir vor allem „Winter“, bei dem die Band erst in der Mitte einsteigt – und dann wird es richtig kraftvoll. Und „Ocean Rising“ war für mich wirklich großartig.

Das Experiment mit dem Orchester ist also gelungen, theoretisch können Sie damit auch auf Tour gehen, oder?

Wir haben jetzt ja die fertigen Arrangements – und theoretisch könnten wir das jederzeit mit jedem Orchester der Welt wiederholen. Aber für mich fühlt es sich so an, als ob diese drei Tage sozial so intensiv gewesen sind, dass sie letztlich den Musikern gehören. Und so kann es auch bleiben.

New Model Army „Sinfonia“ (2CD/DVD/BluRay; 3LP/DVD/BluRay, eAr-Music). Live: 16. Dezember Köln, Palladium. Tickets hier!

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