Essen. Hitze, Dürre, Starkwind: Ist der Straßenbaum noch zu retten? Und müssen wir uns von manchen Sorten verabschieden? Drei Experten geben Auskunft.
„Ela war ein Stresstest“, sagt Norbert Bösken, Forstingenieur bei „Grün und Gruga“, dem Fachbereich der Stadt Essen, der für Pflege und Entwicklung des Stadtgrüns zuständige ist. Sturm Ela fegte 2014 mit bis zu 142 Kilometern pro Stunde über weite Teile des Ruhrgebiets. In Essen zerstörte er zehn bis 15 Prozent aller Bäume, davon allein 8.000 Straßenbäume. Rund ein Viertel des Bestands wurde mittlerweile ersetzt. Wie es zu dieser desaströsen Wirkung kommen konnte, wollte man danach in einer mehrjährigen Studie herausfinden, die Bösken mit geleitet hat. Ein Ergebnis von „BaumAdapt“: Die Standortqualität der rund 60.000 Essener Straßenbäume ist „überwiegend schlecht bis extrem schlecht“.
Konkret heißt das: Wo ein Baum nicht genügend Platz zum Wurzeln findet, kann er sich nicht gesund entwickeln, wächst schlecht und ist entsprechend anfällig für Extremwetter, Schädlinge und den ganzen normalen Stress der Straße: Streusalz, Abgase, enorme Hitzerückstrahlungen bei versiegelten Flächen.
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Ein Sturm wie Ela galt einst als 50-Jahres-Ereignis; mittlerweile ist mit derartigen Stürmen häufiger zu rechnen. Eine Folge des Klimawandels. Damit beim nächsten Mal nicht wieder so viele Bäume samt Beet aus der Erde gerissen werden, sei es von zentraler Bedeutung, für schwächelnde Exemplare jetzt bessere Lebensbedingungen zu schaffen, so eine der Kernaussagen der Studie.
Die „Leistungsträger“ retten
Zugleich gilt es, den gesunden Bestand zu erhalten. Denn insbesondere alte Straßenbäume sind unersetzbar. Ein 40-Jahres-Baum, umgeknickt in einer Nacht, braucht zum Nachwachsen nun mal: 40 Jahre. Zugleich haben die ältesten Bäume den höchsten Verschattungsgrad, die stärkste Kühlwirkung, den größten ästhetischen Reiz. Georg Nesselhauf vom BUND Essen rechnet vor: „Eine 100 Jahre alte Buche kann schon mal 2000 Kubikmeter Kronenvolumen haben – ein 10-Jahresbaum vielleicht 20.“ Forscher der niederländischen Universität Wageningen haben die Kühlleistung großer Bäume auf 20 bis 30 Kilowatt beziffert, was in etwa zehn Klimaanlagen entspricht. Nesselhauf spricht bei alten Straßenbäumen deshalb auch von „Leistungsträgern“, die man unbedingt erhalten müsse.
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Alte Straßen, alte Bäume
Platz für alte, breit ausladende Straßenbäume ist im Ruhrgebiet relativ rar. Die heutigen Großstädte Mülheim, Oberhausen, Essen wuchsen spät, schnell und unkontrolliert. Als zwischen Bauernhöfen und Dorfkirchen mehr und mehr Fördertürme und Fabrikhallen in die Höhe schossen, wurden die Dörfer eines nach dem anderen eingemeindet.
Mit der Industrie kamen die Arbeiter; zwischen Äckern, Wäldern und Industriestätten entstanden Siedlungen, städteplanerisch herrschte zunächst Wildwuchs. Nach und nach wuchsen die kleinen bis mittelgroßen Städte zusammen, weswegen das Ruhrgebiet bis heute wenig urbanes Flair versprüht: Die Straßen sind eher eng, von einem einstigen Ortskern gelangt man in den nächsten; verbunden und zugleich getrennt werden sie von riesigen Industrieanlagen.
Repräsentative Prachtboulevards wie in Düsseldorf fehlen, wilhelminische Heerstraßen wie in Berlin ebenfalls. Berlin galt um 1900 gar als grüne Modellstadt mit internationaler Strahlkraft: US-amerikanische Stadtarchitekten reisten eigens an, um sich ein Bild zu machen. In Folge begann man in New York, es den Preußen gleichzutun.
Die vielen Straßenbäume prägen das Bild der heutigen Bundeshauptstadt seit über 100 Jahren, nicht so im Ruhrgebiet. Nachträglich angepflanzte Bäume müssen sich hier mit weniger Fläche und entsprechenden Lichtverhältnissen abfinden. In den breiten Straßen der weitläufigen Gründerzeitviertel Berlins dagegen haben sie üppig Platz, sich auszustrecken.
Die Linde ist angezählt
Heute haben die Berliner Straßenbäume dafür ein anderes Problem: Wassermangel. Der macht selbst Parkbäumen mittlerweile ordentlich zu schaffen. In Essen ist das eher kein Thema, manche sagen aber auch: noch nicht. Grund dafür ist die Bodenbeschaffenheit. Löss-Lehmboden wie in Essen kann Wasser gut speichern, der Berliner Sandboden dafür kaum.
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In Stadtteilen wie Kreuzberg und Neukölln kann man an Sommerabenden regelmäßig Anwohner mit Gartenschläuchen und Gießkannen beobachten, die selbst ans Werk gehen und versuchen, die sichtbar geschwächten Bäume vor ihren Fenstern durch die Sommerdürre zu retten: Erste Hilfe, ausdrücklich erwünscht von der Berliner Stadtverwaltung – mehr aber auch nicht. Mit den „Gießkannen:heldinnen“ ist 2021 auch eine Aktion in Essen gestartet; ein Zeichen dafür, dass guter Boden allein es auch nicht richten kann.
Weil sie mit den langen Dürreperioden so schlecht zurechtkommt, haben manche Experten die Linde, Berlins häufigsten Straßenbaum, bereits angezählt. Auf gefährdete Arten in Essen angesprochen, gibt Norbert Bösken Entwarnung. Mit einer Ausnahme, der weiß- und rotblühenden Rosskastanie, die vielerorts bereits mitten im Sommer vollkommen vertrocknet scheint. Sie werde nicht mehr nachgepflanzt. Grund ist hier allerdings nicht mangelnder Regen, sondern die Miniermotte. Besonders schädlich wirkt sich aber ein Bakterium aus, das sich als eines von vielen Pathogenen in den vergangenen Jahren rasch ausgebreitet hat.
Für die ohnehin aus dem Mittelmeerraum stammende Platane, für Ahorn und Linde, die in Essen häufigsten Arten, seien dagegen die Standortbedingungen viel entscheidender. Wenn die stimmten, bräuchte man „dem Baum nur noch beim Wachsen zusehen“, sagt Bösken.
Kein Platz für Straßenbäume
Wichtig sei jetzt, vom Wissen ins Handeln zu kommen, sagt Georg Nesselhauf vom BUND. Letztlich ginge es um einen Platzkonflikt. Denn der Raum einer Stadt ist begrenzt. Auf der Straße konkurrieren Radler vermehrt mit Autofahrern um Verkehrsspuren. Freiflächen im Stadtraum werden angesichts eines eklatanten Mangels an bezahlbarem Wohnraum neu bebaut. In teuren, bereits hochverdichteten Städten entstehen selbst in Hinterhöfen noch neue Mietshäuser.
Gleichzeitig haben die meisten Stadträte erkannt, dass lebendiges Stadtgrün Quartiere aufwertet und Hitzewellen erträglicher macht; Bürger protestieren regelmäßig, wenn alte Bäume für Bauprojekte fallen sollen. Unter der Straße geht es weiter: Abwasserkanäle, Stromleitungen, Glasfaserkabel, daneben Tiefgaragen, Keller, Fundamente. Und zwischendrin: Der Straßenbaum. Seine Standortbedingungen verbessern heißt konkret: Anderen etwas Platz wegnehmen.
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Taxiständen zu Baumbeeten
Ortstermin an der Rellinghauser Straße im Süden von Essen. Georg Nesselhauf vom BUND Essen deutet auf einen verwaisten Taxistand an der vielbefahrenen Straße: „Da muss man nur den Untergrund auskoffern, dann hätten die benachbarten Baumbeete gleich mehr Platz.“ 12 Kubikmeter sollten es pro Baum mindestens sein, sagt Andreas Bolle, ebenfalls vom örtlichen BUND. „In der Realität sind es oft weniger.“ Vor Ort: Vielleicht die Hälfte. In solchen Fällen kommt es dann zum sogenannten Blumentopfeffekt.
„Wenn gar nichts geht“, sagt Bolle, „muss man die Fantasie spielen lassen“. Er weist auf eine der 40 mal 40 Zentimeter großen Gehwegplatten: „Gerade genug für eine Kletterpflanze“. Wo der Bürgersteig zu eng ist, könne man die an Hausfassaden hochwachsen lassen. Dazu eigneten sich auch gut die Masten von Oberleitungen, wie zum Teil auch schon geschehen.
Saugen statt graben
Dem Bestand droht die größte Gefahr bei Bauarbeiten: Werden etwa Kanäle saniert, sind Straßenbäume fast immer mit betroffen. An schonenden Methoden fehle es nicht, sagt Norbert Bösken. Zum Freilegen der Wurzeln etwa können statt Baggerschaufeln Sauger zum Einsatz kommen. Man kommuniziere viel, versuche für Aufklärung und Weiterbildung zu sorgen, versichert er. Doch es sei ein komplexes Unterfangen alle Projektpartner zu erreichen.
Auf Baustellen geht es um Zeit und Geld, da hat die Schonung von Stadtgrün oft das Nachsehen. Nimmt das Wurzelwerk Schaden, sieht man das dem Baum zunächst nicht an; erst nach zehn bis fünfzehn Jahren – da ist die Baustelle längst vergessen – zeigt der Baum erste Krankheitszeichen.
„Wenn er könnte, würde der Straßenbaum wegrennen“, sagt der Forstingenieur Bösken. In den Wald nämlich, wo Bäume natürlich vorkommen. Der vereinzelte Straßen-Baum ist ein Widerspruch in sich, an den wir uns gewöhnt haben. Ein Stück kultivierter Natur, dessen Überleben vom Klimawandel nicht begünstigt wird, dem fehlender Regen, Extremwetter und Hitze aber erst dann richtig gefährlich werden, wenn sich seine ohnehin widrigen Lebensbedingungen nicht schnell verbessern.
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