Bonn. Zur Zeit des RAF-Terrors wappnete sich der langjährige Minister auf unkonventionelle Weise. Seine Sorge war nicht unbegründet.

Hans-Dietrich Genscher, langjähriger Innenminister und Außenminister der Bundesrepublik, liebte es, der starke, einflussreiche Politiker zu sein. Der, der im internationalen Politik-Geschehen die Fäden zog. Als ihn das Satiremagazin „Titanic“ im Jahr 1989 im Batman-Dress als „Genschman“ und Weltenretter aufs Titelbild hob, feierte die PR-Abteilung im Auswärtigen Amt die Veröffentlichung. Wahr ist aber auch: Weite Strecken seiner vier Jahre langen Amtszeit als Innen- und 18-jährigen Ära als Außenminister in Bonn bangte Genscher um sein Leben. Es war die Zeit des tödlichen RAF-Terrors, der Anschläge und Entführungen.

Was damals nur wenige in Genschers direktem Umfeld wussten: Der Minister hatte sich wegen der latenten eigenen Gefährdungslage eine Pistole besorgt. Sie steckte stets griffbereit in der Hosentasche. 2015, im Jahr vor seinem Tod, gestand der damals 88-Jährige der Süddeutschen Zeitung: „Hundertprozentige Sicherheit gab es nie. Ich hatte Grund zur Sorge. Die Pistole hat mich beruhigt.“

Anschläge auf Lafontaine und Schäuble

Terroranschläge der Rote Armee Fraktion auf Politiker und Wirtschafts-Manager haben an die 30 Todesopfer gefordert. Die Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer 1977, Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen 1989 oder Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder 1991 erschütterten die Republik in ihren Grundfesten. Auch Politiker standen im Fadenkreuz von Terroristen, wie etwa die tödlichen Schüsse 1981 auf den hessischen Wirtschaftsminister und Genscher-Parteifreund Heinz Herbert Karry zeigen.

Nicht immer sind es Terroristen, von denen Gefahr ausgeht. 1990 attackierten geistig verwirrte Menschen den SPD-Politiker Oskar Lafontaine und den CDU-Mann Wolfgang Schäuble. Beide entkamen nur knapp dem Tod, Schäuble sitzt seither im Rollstuhl. Am Tag vor ihrer Wahl 2015 wurde die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker von einem Mann mit einem Messer so schwer verletzt, dass sie am Wahlsonntag operiert werden musste. Bürgermeister Andreas Hollstein im westfälischen Altena wollte im Juni 2018 einen Döner kaufen, als ihn ein betrunkener Angreifer in den Hals stach. Hollstein überlebte. Ein Jahr darauf tötete der Rechtsextremist Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke mit einem Kopfschuss.

RAF plante Genschers Entführung

Auch Genschers Ängste in den 70er- und 80er-Jahren waren offenbar nicht unbegründet. Er glaubte, die Gegner zu kennen. Ende 1972 hatte ihn der inhaftierte RAF-Boss Andreas Baader in einem Kassiber im Terroristenjargon auf die Todesliste gesetzt: „spitze: biedenkopf, genscher, maihofer, weyer“, stand da. In einem Depot der Terroristen fanden Ermittler Skizzen der Umgebung von Genschers Wohnhaus und einen Angriffsplan an seinem täglichen Fahrtweg zum Ministerium. Genscher beschaffte sich die scharfe Waffe. Und: Tatsächlich kamen ihm die Terroristen sehr nahe.

1978: Der deutsche Herbst mit der Schleyer-Entführung und dem Selbstmord der ersten RAF-Anführer im Gefängnis Stammheim liegen wenige Monate zurück. Die flüchtigen RAF-Mitglieder haben sich auf Verstecke in Paris und im Nahen Osten, aber auch in Deutschland verteilt. In einer konspirativen Wohnung in der Düsseldorfer Witzelstraße haben die RAF-Leute Silke Maier-Witt, Willy-Peter Stoll, Angelika Speitel, Stefan Wisniewksi und Adelheid Schulz den Auftrag erhalten, den Außenminister zu kidnappen. „Die Aktion mit Genscher sollte so wie die Schleyer-Aktion laufen“, wird Maier-Witt Jahre später nach ihrer Verhaftung vor den Ermittlungsbehörden aussagen.

Fünf Wochen später reisen Maier-Witt und die anderen frühmorgens mit Bahn und Bus in das Dorf Pech, südlich der Hauptstadt Bonn. Hier wohnen die Genschers in der Straße Am Kottenforst. Zur Tarnung, um bei der Observation nicht aufzufallen, besorgt sich die Gruppe im Tierheim einen Dackel und nähert sich dem Haus als Spaziergänger oder Jogger, um die Gewohnheiten des Politikers auszuspähen. Schon dabei merken sie wohl: Der Auftrag ist kompliziert.

Gespräch unter Kollegen: der ehemalige US-Außenminister und Friedensnobelpreistraeger Henry Kissinger (l.) und Hans-Dietrich Genscher
Gespräch unter Kollegen: der ehemalige US-Außenminister und Friedensnobelpreistraeger Henry Kissinger (l.) und Hans-Dietrich Genscher © epd | Kai-Uwe Huendorf

Genscher wird rund um die Uhr von Personenschützern der Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes umgeben. Von der Pistole des Ministers ahnen die Terroristen nichts. Doch noch bevor die Kidnapping-Pläne konkret werden, kommt alles anders. Der Tod von RAF-Mitglied Willy-Peter Stoll, mutmaßlich einer der Schleyer-Entführer, der nach seiner zufälligen Enttarnung im Düsseldorfer Chinarestaurant „Shanghai“ im September 1978 von Polizisten erschossen wird, und die folgende Festnahmewelle durchkreuzen die Pläne.

„Ich will nicht wie Schleyer enden“

Was wissen wir über Genschers Pistole? Von der Größe her, passend in die Hosentasche, kann sie vom Typ Walther oder Glock gewesen sein, Kaliber neun Millimeter. Juristisch gesehen, durfte der Minister die Waffe bei sich tragen – und hat sich das vielleicht selbst genehmigt. Zu jener Zeit kann laut einer Verwaltungsvorschrift „der Bundesminister des Inneren … sowie die zuständigen Stellen der Länder .. für Personen, die wegen der von ihnen wahrzunehmenden hoheitlichen Aufgaben persönlich gefährdet sind, eine Bescheinigung ausstellen, die diese zum Erwerb von und zur Ausübung der tatsächlichen Gewalt über Schusswaffen sowie zum Führen dieser Waffen berechtigt“.

Genscher nutzte diese Vorschrift wohl nicht als einziger. Auch Nordrhein-Westfalens FDP-Innenminister Burkhardt Hirsch („Ich will nicht wie Schleyer enden“) und Hessens SPD-Ministerpräsident Holger Börner wappneten sich. Von Börner wird erzählt, er habe die Waffe sogar einmal auf die Intensivstation einer Klinik geschmuggelt. Und als 1976 der damalige hessische CDU-Vorsitzende Alfred Dregger, bekanntlich ein ausgewiesener Vertreter einer harten Law-and-Order-Politik, dem Magazin „Spiegel“ ein Interview in seinem Dienstwagen gab, zog der Christdemokrat aus seinem Jackett seine Pistole hervor und übergab sie dem Fahrer, der die Waffe im Handschuhfach deponierte. Die Journalisten seien schließlich „friedliche Leute“ witzelte Dregger.

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Aber schützten mitgeführte Pistolen wirklich gegen zum Äußersten bereite Terroristen? Auch Hans-Dietrich Genscher wird sich das womöglich gefragt haben, als RAF-Mörder am Abend des 12. Oktober 1986 den Politischen Direktor des Auswärtigen Amtes (AA), Gerold von Braunmühl, vor dessen Wohnungstür im Bonner Stadtteil Ippendorf töteten. Maskierte hatten dem Mann mit jener Waffe in den Kopf geschossen, mit der schon Hanns-Martin Schleyer getötet worden war.

Der Braunmühl-Mord offenbarte die Schwachstellen des Politikerschutzes in jener Zeit. Täterwissen wie die genaue Funktion des Diplomaten, seinen Wohnort oder den Arbeitsablauf kannten selbst AA-Beamte aus dem gleichen Gebäude nur oberflächlich. Aus dem Bekennerschreiben der RAF ging hervor, dass die Mörder zeitnah von Details eines geheimen Gesprächs on Braunmühls mit seinen amerikanischen, britischen und französischen Kollegen Kenntnis hatten.

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Ärger mit Waffe beim Nato-Gipfel

Wie konnten die Terroristen an die internen Informationen gelangen? Bis heute gehört das zu den ungelösten Rätseln der Zeit. Horst Herold, von 1971 bis 1981 Präsident des Bundeskriminalamtes, schloss Verrat offenbar nicht aus, einmal spekulierte er über die Hintergründe von RAF-Anschlägen: „Manche Taten lassen vermuten, dass es eine Quelle im Objekt, einen Konfidenten im beruflichen Bereich gibt.“ Jemand greife zum Telefon und signalisiere den Mördern: „Jetzt fährt er los.“

Hans-Dietrich Genscher musste seine Waffe niemals benutzen. 1995, in seinen „Erinnerungen“, lüftete der aus dem Dienst geschiedene Außenminister das Geheimnis um seine Pistole. Auf Seite 801, auf der es um die Nato-Tagung in Schottland im Frühjahr 1990 kurz vor der deutschen Einheit geht, offenbart Genscher einen, nun ja, kleinen Eklat bei der Anreise zum Tagungsort. „Meine Teilnahme an der Zusammenkunft in Turnberry wäre beinahe gescheitert. Ich war schon in meinem Zimmer und studierte Akten, da stürzte einer meiner Mitarbeiter herein: ,Herr Minister, es gibt ein Problem!‘“. Schottlands Polizei hatte im Gepäck „meine persönliche Waffe“ entdeckt, so Genscher. Waffeneinfuhr nach Großbritannien war verboten, man wollte ihm die Einreise verweigern. Genscher drohte damit, seine Teilnahme an der Konferenzteilnahme abzusagen.

Die Schotten gaben nach, Genscher behielt seine Pistole.

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