Der Deutsche Gabriel Zuchtriegel ist Direktor des Archäologischen Parks am Vesuv.

Der Archäologe Gabriel Zuchtriegel ist alles andere als ein wunderlicher Spinner im entrückten Elfenbeinturm längst vergangener Zeiten. Beziehungsweise einer vor fast 2000 Jahren untergegangenen Welt. Der deutsche Forscher, der inzwischen auch die italienische Staatsbürgerschaft angenommen hat, ist seit zwei Jahren Direktor des Archäologischen Parks von Pompeji – ein geradezu magischer Ort, den ein Vorgänger Zuchtriegels einmal als „heiliges Denkmal der ganzen zivilisierten Menschheit“ rühmte.

Gabriel Zuchtriegel weiß natürlich auch um den außergewöhnlichen Wert Pompejis. Doch er will diesen archäologischen Schatz nicht nur bewahren, sondern er möchte die Bedeutung der Ausgrabungsstätte ganz unmittelbar für uns und unsere Gegenwart nachvollziehbar, begreifbar und nutzbar machen.

Pompeji wurde 79 n. Chr. durch einen wahren Stein- und Ascheregen sowie einer Hitzeentwicklung von bis zu 400 Grad aus dem ausgebrochenen Vesuv binnen weniger Stunden förmlich erstickt. 1300 Opfer, die bisher gefunden worden sind, wurden buchstäblich im Augenblick ihres Todes „konserviert“. Erste offizielle Ausgrabungen in und vom Pompeji gab es 1748, und als Johann Wolfgang von Goethe die damals schon berühmte Stätte 1787 auf seiner „Italienischen Reise“ besichtigte, vermerkte er beeindruckt: „Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte.“

Was Pompeji über uns erzählt

Goethe meinte dies keineswegs zynisch. Sondern er verwies auf den historischen und archäologischen Wert, den das untergegangene Pompeji der Nachwelt erhalten hat. Bis heute sind erst zwei Drittel Pompejis wieder ans Licht der Welt gebracht worden, und noch immer ranken sich unzählige Fragen, Vermutungen und Geheimnisse um diesen einzigartigen Ort.

In seinem gerade erschienenen Buch „Vom Zauber des Untergangs“ hat Direktor Zuchtriegel eine Art Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Forschungsbemühungen um Pompeji vorgenommen. Vor allem aber hat er dies getan, um darzulegen, „was Pompeji über uns erzählt“. Mit anderen Worten, welchen Nutzen wir aus den archäologischen Arbeiten und ihren daraus folgenden Interpretationen für unsere Gegenwart ziehen können, oder zumindest könnten. Da ist zum Beispiel der überaus bemerkenswerte Umstand, dass das „wiederauferstandene“ Pompeji ein Stück Menschheitsgeschichte einmal nicht aus der Sicht der Reichen und Mächtigen erzählt, wie es üblicherweise zumeist anderswo geschehen und durch entsprechende Quellen jahrhundertelang stets geflissentlich überliefert wurde.

Gabriel Zuchtriegel.
Gabriel Zuchtriegel. © dpa | Johannes Neudecker

Pompeji belegt, auf welche Weise das damalige Leben, der Alltag „normaler“ Menschen, mit unserer Situation vergleichbar ist. Zuchtriegel: „Das Besondere an Pompeji sind weder seine Tempel und Theater. Vielmehr ist es das Gewebe aus Werkstätten, Wohnungen, Schenken, Absteigen, Läden, Bädern und Bordellen, das Pompeji zu einem einzigartigen Ort für die Archäologie macht.“

So hat sich kürzlich erst gezeigt, dass in und um Pompeji etwa 45.000 Menschen gelebt haben müssen; mindestens 20.000 davon im eigentlichen Stadtkern. Die Räume und Zimmer der ein- und zweigeschossigen Häuser waren jeweils kaum mehr als acht Quadratmeter groß, so dass die Bewohner auf engstem Raum zusammenleben mussten.

Auf gerade einmal ungefähr 1400 Wohnungen wird Pompeji nach heutigem Wissen geschätzt, und nicht zuletzt auch deshalb spricht Gabriel Zuchtriegel davon, dass Pompeji damals „am Rand der Katastrophe – nicht nur wegen der bevorstehenden Eruption, sondern auch, weil die Stadt ökonomisch und sozial auf wackeligen Beinen stand, stets am Rand des Zusammenbruchs“ war. Zudem betont Zuchtriegel neueste Forschungsergebnisse, wonach die Stadt Pompeji „in der Frühform der Globalisierung ihre Schattenseiten“ erfahren musste. Dazu gehört u. a., dass die vielen Bewohner nicht mehr allein durch die Produkte des Umlandes ernährt werden konnten und Pompejis durchaus florierender Handel mit Wein „in dem komplizierten mediterranen Netzwerk“ mehr und mehr in ein gefährliches Ungleichgewicht geraten war. Soll heißen; während mit dem üppigen Weinhandel von Pompeji höchst ertragreiche Geschäfte gemacht wurden, litten nicht wenige Menschen an eklatanter Nahrungsknappheit; es kam zu regelrechten Hungerperioden .

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Gabriel Zuchtriegel räumt auch mit einem verbreiteten Pompeji-Mythos auf: Mit dem Vulkanausbruch ging eben nicht eine komplette Stadt mit ihren Bewohnern unter. Legt man die Zahl von 20.000 Menschen, die dort lebten zugrunde, dann bemisst sich die Zahl der Opfer auf „nur“, aber auch höchstens fünf bis zehn Prozent der Pompeji-Bevölkerung: „Pompeji ist auch eine Geschichte vom Überleben und vom Weiterleben“, so Zuchtriegel.

„Arroganz steht uns schlecht an“

Für die Bewohner der damaligen Katastrophe, kam der Vesuv-Ausbruch jedenfalls völlig unerwartet, Schließlich, so weiß man inzwischen, lag der letzte Ausbruch gut 300 Jahre zurück und war entsprechend längst vergessen. Zuchtriegel folgert auch deshalb für uns daraus, dass Pompeji mit all seinen ausgegrabenen Schätzen der Nachwelt förmlich zuzurufen scheint: „Freut euch an eurem Dasein, so lange ihr noch könnt! Man könnte auch so formulieren: Setzt die Prioritäten in eurem Leben im Bewusstsein seiner Endlichkeit.“

Und resümierend mahnt der Archäologie-Chef im Blick auf „sein“ Pompeji: „Heute, da der menschengemachte Klimawandel eingetreten ist, vor dem seit Jahrzehnten gewarnt wurde, darf man vielleicht mehr denn je an der Fortschrittsfähigkeit der Menschheit zweifeln. Jedenfalls steht uns Arroganz gegenüber früheren Epochen schlecht an, auch weil die viel gefeierten Errungenschaften von Wohlstand, moderner Medizin usw. global betrachtet einer Minderheit zukommen.“

Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs - Was Pompeji über uns erzählt. Propyläen Verlag 235 Seiten, 29 Euro

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