Paderborn. Vor 17 Jahren, im WM-Sommer 2006, verschwand die 21-jährige Schwesternschülerin aus Ostwestfalen. Monate später fand man ihre Leiche.
„Wo bist du?“ „Kann ich nicht sagen“. „Komm doch nach Hause“. „Nein, das geht nicht“. „Warum denn nicht?“ „Kann ich dir nicht sagen“. „Wirst du festgehalten?“„Ja. Nein. Nein“. Dies ist ein Ausschnitt aus einem Handy-Gespräch. Das letzte mit der verschwundenen Frauke Liebs. Es war im Sommer 2006. Die Fußball-WM begeisterte. Monate später wird man die Leiche der 21-jährigen aus Paderborn in einem Wald finden, den sie hier schon immer „Totengrund“ nennen. Seit jetzt 17 Jahren fahnden Ermittler nach Fraukes Mörder. Es gibt keine weiterführende Spur im vielleicht rätselhaftesten Kriminalfall in Nordrhein-Westfalen. Noch nicht?
„Wir sitzen im Pub“
Aufklären nach langer Zeit. Das kann ja funktionieren. 23 längst pensionierte Polizistinnen und Polizisten haben das auf Anstoß von Landesinnenminister Herbert Reul gerade gezeigt. Sie rollten „kalte“ Fälle, Cold Cases, mit modernen Ermittlungsmethoden auf. Jetzt kennen wir die mutmaßlichen Täter, die Klaus Dieter Mirow und Petra Nohl in Köln getötet haben sollen, Claudia Otto aus Lohmar, Sigrid Corsten aus Meerbusch und Agnes Niewöhner aus Vlotho. 403 weitere Akten werden noch einmal angefasst. Die Aufklärung des Todes von Frauke Liebs wird nicht dazu gehören. Denn an der Sache arbeitet eine Mordkommission in Ostwestfalen immer noch aktuell. Angehörige und Freunde der jungen Frau fahnden mit und betreiben eine eigene Internetseite. Frauke Liebs geht den Leuten am Fuß des Eggegebirges nicht aus den Köpfen.
Was geschah mit der Schwesternschülerin in jenem Sommer?
Rückblende 2006. Die WM im eigenen Land bringt die Republik in Partylaune. Junge Leute treffen sich zum Rudelgucken wie in Paderborn am 20. Juni, einem heißen Dienstagabend. Die Mannschaft Englands spielt gegen von Schweden. Im irischen Pub „The Auld Triangle“ am Rand der Altstadt ist die Stimmung ausgelassen. Frauke Liebs, die ihre zahlreichen Bekannten als offen gegenüber allen Menschen bezeichnen, feiert gerne mit. Die Freundin Isabella hatte angefragt und der 21-Jährigen, die im St. Vincenz-Hospital lernt, eine SMS geschickt. „Wir sitzen im Pub. Gute Sicht auf die Leinwand“.
Frauke liest das, als sie sich mit ihrer Mutter Ingrid und ihrem Mitbewohner Chris in einem Restaurant zum Essen trifft. Die drei machen das ab und zu so. Fünf Jahre waren Frauke und Chris ein Paar. Jetzt sind sie sehr gute Freunde und teilen sich die kleine WG in der Borchener Straße 56, eine Viertelstunde Fußweg vom „Auld Triangle“.
Todesursache nicht feststellbar
Ingrid Liebs und Chris setzen Frauke gegen 21 Uhr am Pub ab. Zwei Stunden später, das Spiel ist vorbei, macht sie sich müde auf den Heimweg. Chris hat sich ihren Wohnungstürschlüssel geliehen und wird bis zu ihrer Rückkehr wach bleiben, um Frauke einzulassen. Doch in der Borchener Straße kommt Frauke nicht mehr an. Irgendwo unterwegs, so ergeben es die Ermittlungen, steigt sie in ein Fahrzeug. Am 4. Oktober wird ein Jäger ihre verweste Leiche in unversehrter Bekleidung zehn Meter neben der Landstraße L 817 südöstlich von Paderborn bei Lichtenau finden, zwischen Herbram-Wald und Asseln. Bald steht fest: Der Fundort ist nicht der Tatort. Alle Spuren sind verwischt. Die Todesursache? Nicht mehr feststellbar.
Wie in Trance
„Es gibt Fälle, die sind auf gut Deutsch einfach beschissen“ hat Ralf Östermann später einmal gesagt. Er wurde nach dem Leichenfund Chef der federführenden Bielefelder Mordkommission. 900 Personen haben sie dort überprüft. 40 Durchsuchungen hat es gegeben. Am Ende: nichts. Kein Verdächtiger. Nur ungeklärte Fragen und nicht erklärbare Vorgänge. Besonders verwirrend und mysteriös: Frauke hat sich nach ihrem Verschwinden am Abend des 20. Juni eine Woche lang fast täglich gemeldet. Sieben Kontakte gab es, eine SMS in der Nacht des Verschwindens und dann eine Woche lang mit einer Ausnahme Anrufe immer spät nach 22 Uhr. Mit schwacher Stimme, oft wie in Trance. Immer mit rätselhaften Andeutungen. Gesprächspartner waren Freund Chris, aber auch ihre Geschwister Frank und Karen.
Chris hat mehrfach Fraukes Satz gehört, dass „ich heute nach Hause komme“. Dass Frauke „nicht sagen“ könne, wo sie sei und auch nicht, wer bei ihr sei. Einige Male schien sie verkappte Hinweise zu geben. Beim ersten Anruf redete sie ihn mit Christo an – was sie machte, wenn sie in Schwierigkeiten steckte. Ein Notruf? „Bist du verletzt?“ fragte Chris zwei Tage später: „Nein, ich bin in Paderborn, ich bin in Paderborn, ich bin Paderborn“. Drei Mal Paderborn. Hatte das was zu bedeuten?
Es sind die Tage nach dem Verschwinden. Auf dem Polizeirevier nimmt man die Sache zunächst nicht so dramatisch. Das mutmaßliche Opfer ruft immer an. Es muss also noch leben. Eine Telefonüberwachung unterbleibt zunächst. Anders fühlen Freund und Familie. Sie zermartern sich das Gehirn. Wollte sie weg? Hat sie jemanden kennengelernt? Wurde sie entführt? Wieso ruft sie an? Wieso spricht sie so merkwürdig? Ist sie in Lebensgefahr?
„Wirst du festgehalten?“
Montags, eine Woche nach dem Treffen im Pub „Auld Triangle“, bleibt ein Anruf aus. Dienstag, 27. Juni 2006. Im Achtelfinale spielt Frankreich gegen Spanien 3:1. Karen ist am Abend bei Chris, auch Fraukes Mutter und der von dieser getrennt lebende Vater. Aber sie gehen irgendwann. Dann meldet sich Frauke doch noch. „Wo bist du?“, fragt Chris. „Mama“, erhält er zur Antwort. „Wo bist du?“ „Mama“. Ein drittes Mal reagiert sie mit diesem einen Wort. Die Mama, das ist die Lehrerin Ingrid Liebs. Sie arbeitet in dieser Zeit als Schulleiterin in Bad Driburg, auf der anderen Seite des Eggegebirges. In der Nähe liegt eine Ortschaft namens Nieheim. Von hier kam auch die SMS am Tag des Verschwindens. Wollte sie den Hinweis auf den Ort geben, an dem ihr Mörder sie versteckt hielt? „Sagt Mama und Papa, dass ich sie ganz doll liebe“, hat Frauke noch gesagt. Ein „Ciao“ nach diesem etwa fünf Minuten langen Gespräch war das letzte Lebenszeichen, was Familie und Freunde von ihr bekamen. Danach: Kein Anruf mehr, keine SMS.
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Vielleicht war eine ihrer Reaktionen falsch, denken sich Angehörige und Fahnder seither. „Wirst du festgehalten?“, hatte Chris gefragt. „Ja“ sagte Frauke spontan – um schnell nachgeschoben das Gegenteil zu behaupten: „Nein. Nein.“ War dieses „Ja“ ein „Ja“ zu viel, wurde es zum plötzlichen Risiko für den Entführer? War es das Todesurteil? Man kann nur spekulieren.
Experten haben die Kontakte der 21-Jährigen rekonstruiert. „Sie chattete mit Gott und der Welt“, hat Chefermittler Ralf Östermann in Erinnerung. Das Team klopfte naturgemäß die Alibis von Chris ab und vom 32-jährigen Niels, den sie ein paar Wochen vorher kennengelernt und mit dem sie noch aus der Kneipe gechattet hatte. Kein Verdacht blieb übrig.
Geblieben sind digitale Fährten. Die Fahnder checkten die Herkunft der Anrufe anhand der Handy-Einwahlen. Sie erhielten Standorte und Verbindungsdaten. Die erste SMS, um 0.49 Uhr zwei Stunden nach dem Verschwinden, kam aus dem Bereich des Sendemastes Nieheim-Entrup 40 Kilometer östlich von Paderborn. Die Anrufe an den Folgetagen stammten aus Gewerbegebieten der Stadt. Stunden nach dem letzten Gespräch eine letzte Ortung: wieder Nieheim-Entrup. Dann: Stille.
Nieheim, so haben die Profiler des Düsseldorfer Landeskriminalamtes damals in einer Fallanalyse festgestellt, muss die Region gewesen sein, in der Frauke Liebs eine Woche festgehalten wurde. In einer Wohnung? Einem Haus? Einem Wohnwagen? „Täter und Opfer sind fast täglich in den späten Abendstunden in einem Fahrzeug weggefahren und später zurückgekehrt“, glaubten die Ermittler. Nach Paderborn zum Telefonieren. Der Entführer – sehr wahrscheinlich Einzeltäter, wie die Analytiker annahmen – , wollte womöglich vom eigentlichen Tatort ablenken.
Ermittlungen ohne Durchbruch
Ermittler Östermann ist 2019 in Pension gegangen. Zuletzt war er überzeugt: „Wir haben definitiv keine neuen Spuren.“ Die Tat passe in keine Serie. Vor wenigen Jahren, als es im Fall um das „Horrorhaus von Höxter“ zum Prozess gegen das Ehepaar Wilfried und Angelika W. kam, da hätten seine Leute noch ein „Bauchgefühl“ bekommen, sagt er. Die Ermittlungskommission „Lichtenau“ leitete daraufhin in einem Prüfvorgang ein, ob Wilfried W., der 2006 im Örtchen Schlangen gelebt, hatte wenige Kilometer von Nieheim, auch als Mörder von Frauke Liebs in Frage kommen könnte. Sie haben das getan, was Ermittler immer tun: Fakten gesammelt, Zeugen befragt. Östermann: „Wir haben keine Zusammenhänge gefunden.“
Sommer 2022. Asseln ist ein 500-Seelen-Dorf im Eggegebirge bei Lichtenau. An einem August-Morgen rückten hier massive Polizeikräfte an. Sie durchsuchten eine Wohnung. Offenbar hatten die Behörden länger zuvor Verdachtshinweise auf ein Brüderpaar erhalten. Unmittelbar habe man für diesen Anfangsverdacht keine Bestätigung erhalten, sagt Staatsanwalt Kai Uwe Waschkies unserer Redaktion. Niemand sei in Haft. Sichergestellt seien „technische Asservate“, zum Beispiel Kommunikationsmittel. Die Überprüfungen sind nicht abgeschlossen. Für die Ermittler ist noch „alles in der Schwebe. Einen Durchbruch haben wir nicht erzielt“, sagt Waschkies.
Keine Spur vom Handy
Generell setzen sie in diesem „Puzzle der 1000 Teile“ weiter auf Hinweise auf Menschen, die sich im Bekannten- und Freundeskreis des Opfers vielleicht verdächtig geäußert haben. Dafür gebe es nach 17 Jahren durchaus die Chance. Und es könnte Zeugen geben, die verschwundene Gegenstände wiedererkannt haben. Bis heute fehlt jede Spur von Fraukes Nokia-Handy 6230 mit Kamera und einer „Fossil“-Armbanduhr, von ihrer schwarzen Handtasche, von der EC- und ihrer Gesundheitskarte.
Ingrid Liebs will nur noch, dass ein möglicher Täter ihr berichten kann, wie die letzten Lebenstage der Tochter verlaufen sind. Vielleicht, so sagte sie um den Jahreswechsel in einem „Stern“-Podcast, habe der Täter die junge Frau gar nicht töten wollen. Vielleicht sei ihm alles aus dem Ruder gelaufen? Auf ihrer privaten Webseite heißt es an seine Adresse: „Familie und Freunde trauern jeden Tag um Frauke Liebs, um ihre Tochter, Schwester und Freundin. Brechen Sie Ihr Schweigen, erleichtern Sie Ihr Gewissen!“
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