Wattenscheid. Wattenscheid 09 hat trotz anhaltender Erfolgs- und Mittellosigkeit seine Anziehungskraft nie verloren. Die Gründe.

Die beiden stummen Zeugen vergangener Glanzzeiten geben zuweilen ein stimmungsvolles Bild ab. Hier ragen die Flutlichtmasten des Lohrheidestadions empor, da steht der Förderturm der stillgelegten Zeche Holland, wo früher Kohle gefördert wurde. Rund um das Stadion hat man immer wieder viel davon verbrannt – im übertragenen Sinne, denn sportlicher Erfolg im Fußball kostet Geld.

Aber schwarzes Gold und sportlicher Ruhm sind längst vergangen. Die Bauwerke sind geblieben, wie aus Trotz. Besonders imposant ist die Kulisse mit Lichtanlage und Zeche übrigens dann, wenn die Sonne bei klarem Himmel aufgeht. Also dann, wenn die SG Wattenscheid 09 gerade nicht Fußball spielt, und vielleicht sagt das schon eine Menge über den traditionsreichen Verein aus.

Wattenscheid 09 fehlen die Grauzonen

Wer heute über Wattenscheid 09 nachdenkt, dem fallen vor allem Dinge ein, die nur wenig mit Fußball zu tun haben, die aber nur mit Fußball zu erklären sind. Wenn es um konzentrierte Machtverhältnisse geht, um Insolvenzen und Machenschaften in legalen Zwielicht, dann braucht es einen schwindelerregenden Dreh zur Hauptthematik, zum Klub mit den Vereinsfarben Schwarz und Weiß.

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Die wiederum sagen auf eine vergleichsweise triste Art ebenfalls eine Menge über den Verein aus: Dem ehemaligen Bundesligisten fehlt die Grauzone, er wird nur noch in extremen Phasen wahrgenommen. Beim Aufstieg im vergangenen Jahr etwa, oder zweieinhalb Jahre zuvor, als er insolvent war und die Spieler nicht mehr bezahlen konnte, die dann zu anderen Vereinen gehen durften.

Klaus Steilmann: Der Boss führte Wattenscheid 09 in die Bundesliga

Oder als ein Start-up aus Hamburg sich in Wattenscheid vorstellte, um den Verein zu digitalisieren – noch krasser als den FC Barcelona oder Borussia Dortmund. Die Partnerschaft wurde aufgekündigt - dem Vernehmen nach aus Eitelkeit des Aufsichtsrats-Vorsitzenden. In der Güte des ersten Mannes im Verein lag jahrelang das Wohl und Wehe des Vereins.

Klaus Steilmann, ohne den inzwischen verstorbenen Ex-Mäzen funktioniert keine Geschichte über die SGW, führte den Klub in die Bundesliga, die Geschichte ist x-mal erzählt. Ebenso wie die seiner Nachfolger, die allesamt ebenfalls der Boss sein wollten, aber ausnahmslos scheiterten, ganz gleich, wie groß die Versprechen waren. Wattenscheids sportlicher Erfolg lag beständig in den Händen von einflussreichen Einzelpersonen. Was hinter den Kulissen passierte, darüber wurde oft nur mit gedämpfter Stimme gesprochen.

Der „Boss“: Klaus Steilmann führte die SG Wattenscheid 09 in die Bundesliga.
Der „Boss“: Klaus Steilmann führte die SG Wattenscheid 09 in die Bundesliga. © dpa Picture-Alliance / SVEN SIMON

2019 hat sich der Verein neu erfunden, gibt nun weniger Geld aus als vorhanden ist und ist in der Außendarstellung beständig geworden. Eingefleischte Fußballliebhaber würden „langweilig“ sagen. In Wattenscheid war man jüngst aber vor allem davon entzückt, dass endlich mal Ruhe vor und hinter den Kulissen herrscht.

Und doch: „Wir sind in einer Identitätskrise“, hat Sportvorstand Christian Pozo y Tamayo neulich erst festgestellt, da war der Verein aus der Regionalliga abgestiegen. Wattenscheids neues Gesicht soll vor allem Bescheidenheit und Demut ausdrücken. Die Erfahrungen verlangen das einfach. Stirbt damit ein Stück Fußball-Geschichte im Ruhrgebiet?

Wattenscheid 09 hat seine Anziehungskraft nie verloren

Wattenscheid als zuverlässigen, wenn auch nicht regelmäßigen Lieferanten von skandalträchtigem Gesprächsstoff gibt’s nicht mehr. Hat der neue Wattenscheider Weg dafür gesorgt, dass der Mythos verblasst oder ist er nur durch den Mythos zu erklären? Freilich: Wäre die Sehnsucht nach Fußball bei der überschaubaren Anhängerschaft nicht so unermesslich groß, man hätte den Verein vor knapp vier Jahren voll von der Bildfläche verschwinden lassen.

Die Bundesliga-Historie war längst auserzählt, und auch Mutmaßungen darüber, wie schnell Klaus Steilmann wohl im Sarg um die eigene Achse rotiert, sind zu abgedroschenen Phrasen verkommen. Sie können es in Wattenscheid nicht mehr hören, die Geschichten vom „Boss“, der in der Geschäftsstelle noch allgegenwärtig ist. Doch die vier Bundesliga-Jahre sind ein winziger Abschnitt in der langen Historie der SGW, die trotz anhaltender Erfolgs- und Mittellosigkeit die Anziehungskraft nie verloren hat.

Der enge Kreis der „Wattenscheid 09“-Fans ist klein – und in seiner Ausrichtung gespalten.
Der enge Kreis der „Wattenscheid 09“-Fans ist klein – und in seiner Ausrichtung gespalten. © FUNKE Foto Services | Stefan Rittershaus

Wie sonst wäre zu erklären, dass etwa Ralf Hönicke Spiel für Spiel aus Münster nach Wattenscheid fährt, obwohl er aufgrund eines seltenen Gendefekts fast blind ist. Er habe „einen kleinen Nagel im Kopf, wie alle auf der Tribüne“, begründet er seine Vereinstreue. Vielleicht liegt die aber auch darin begründet, dass beide – der ehemalige Bundesligist und Ralf Hönicke – einen Kampf ausgetragen haben, den sie nach eigenem Dafürhalten längst gewonnen, in der Wahrnehmung von außen aber immer noch bestreiten.

Auf der einen Seite der chronisch unterfinanzierte Traditionsverein, der sich neu erfunden hat. Auf der anderen Seite ein Mann, der immer schlechter sehen kann, mit dem Alltag aber immer besser zurechtkommt, ohne dass er die oft angebotene Hilfe in Anspruch nimmt.

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Fans wie Ralf Hönicke können unzählige Geschichten rund um Stadionbesuche erzählen, bei denen der Geruch von feuchtem Rasen unweigerlich in die Nase kriecht. Als er mal unterwegs zu einem Spiel war, habe ein Sportwagen durch die Menschenmenge nahe der Haltestelle fahren wollen. Auf dessen Hupen habe der Tross von von SGW-Fans so pragmatisch reagiert, wie es Ralf Hönicke gern mag: „20 Mann sind um das Auto, haben es hochgehoben und auf die Gleise gestellt. Der kam da nicht mehr weg.“

Wattenscheid 09-Fans sind gespalten

Heute spricht man in Wattenscheid über ganz andere Dinge, zuletzt auch über negative. Eine Mail von einem anonymen Verfasser hat die Vereinsführung dazu bewegt, einen offenen Brief ans Umfeld zu schreiben. In der Mail waren Spieler und Trainer massiv bedroht worden. Es ging um sportliche Leistungen, der Verfasser – so wird vermutet – war ein Einzeltäter. Der engere Kreis der Fans ist klein, dafür aber in der Ausrichtung gespalten.

Die einen wollen den Verein so weit wie möglich oben sehen, die anderen sind für Realismus. Der Abstieg aus der Regionalliga hat die Lager emotional weiter entzweit. Ein Zeichen, dass Wattenscheid 09 lebt, der Verein ist nicht totzukriegen.

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