Reisen bildet. Wenn man sich an die Diktatur der Veranstalter hält. Man kann aber auch Spaß haben und Sehenswürdigkeiten absichtlich übersehen.

Städtetouren haben sowas Einschüchterndes. Die Reiseberichte in den Illustrierten sorgen für Stress. Kultur! Kulinarisches! Klamotten! Der Tourist bummelt nicht mehr drauflos, er muss ERLEBEN, etwas Großes – und erleuchtet, mindestens aber neu eingekleidet heimkehren. Also haben wir am Wochenende alles falsch gemacht.

Unser Sohn absolviert in Lübeck ein Praktikum. Nach drei Monaten wollten wir schauen, ob das Kind hungert oder friert. Aber wenn man mal da ist, muss man alles mitnehmen. Befiehlt die Spaßgesellschaft. Holstentor, Buddenbrookhaus, Niederegger. Urige Kneipen. Ostsee. Viel für anderthalb Tage.

Wir landeten in einem Vorort von Lübeck, der auch ein Vorort von Moers sein könnte. Im Einerlei der Neubauten stand Muttis liebste Sehenswürdigkeit: Sohn, fröhlich grinsend. Das Arbeitszimmer von Thomas Mann ließen wir links liegen für Joeys erste Studenten-WG. Man sollte Eintritt verlangen für diesen historischen Anblick: Das Zimmer war aufgeräumt! „Hab ja hier viel weniger Zeug, Mama!“, lernte ich bei der Führung. Und das ging runter wie Marzipan: „So ein netter Junge!“, sagte die Vermieterin.

In der Altstadt kamen wir nicht weit, weil Vater und Sohn eine Familientradition pflegten. Sobald wir Kopfsteinpflaster unter den Füßen haben, brauchen alle was zu essen. Wie üblich landeten wir am erstbesten Bratwurststand, der in keinem Streetfood-Führer auftaucht. Auch das Shoppen hakte. Während ich Stiefel anprobierte, fielen mir die zerlatschten Turnschuhe meines Sohnes auf. Mütter können durch Leder sehen. Ich erkannte winzige rosa-bläulich gefrorene Babyzehen. Wir kauften dem Kind warme Boots.

Urige Kneipen muss man ein Jahrhundert vorher reservieren. Blieb nur ein Restaurant, das aussah wie von Harald Glööckler, ein Albtraum in Schwarz und Silber. Es gab viel Fleisch, Mann und Sohn waren glücklich wie früher zusammen vor der Sportschau. Fünf Sterne.

Die Ostsee? Lag am nächsten Tag grau und müde irgendwo da hinten, während wir in einer Eckkneipe schon wieder Schnitzel bestellten. Unser Sohn genoss und plauderte. Zu Hause halten Kinder ihr Leben ja streng geheim. Hier erfuhren wir von neuen Kumpeln, Discobesuchen, dem komplexen Praktikum. Und dass sich unser 20-Jähriger auf Weihnachten zu Hause freue, sogar auf seine vegane Schwester.

Insgesamt hatten wir für anderthalb Tage Lübeck elf Stunden im Auto gesessen. Holstentor, Niederegger, die Buddenbrooks verpasst. Kein Souvenir gekauft, mittelmäßig gegessen, nonstop geredet. „Cool, dass ihr da wart“, schrieb Joey.

Keine Vorzeige-Städtetour. Irgendwas haben wir richtig gemacht.

Hotel, Lübeck, 79 €