Essen. Pflegeheime in NRW stehen unter einem enormen wirtschaftlichen Druck und geraten immer häufiger in Schieflage. Das sind die Gründe und Folgen.
Sie sollen Menschen in den letzten Lebensjahren einen Schutzraum bieten, in dem sie begleitet, betreut und gepflegt werden, doch zunehmend steuern Senioren- und Pflegeheime selbst auf wirtschaftlich unsichere Zeiten zu: Selten war die Stimmung unter den Betreibern der Heime in NRW so schlecht wie aktuell. Immer mehr Häuser ächzen unter einem hohen wirtschaftlichen Druck, die Zahl der Insolvenzen nimmt zu. Auch ambulante Pflegedienste sind betroffen.
„So schlimm wie jetzt war es noch nie“, sagt einer, der seit 50 Jahren in der Pflege arbeitet: Helmut Wallrafen ist 67 Jahre alt und führt die Geschäfte der Sozial Holding der Stadt Mönchengladbach, zu der sieben Altenheime gehören. „Es geht gerade nicht darum, das einzelne Häuser in Schieflage geraten. Wir erleben in der gesamten Pflege, dass der wirtschaftliche Druck selbst bei großen Trägern extrem zugenommen hat. Es brennt lichterloh“, sagt Wallrafen, der in der Branche dafür bekannt ist, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. „Das Perverse an dieser Sache ist: Es scheint keinen zu interessieren.“
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Triage gegen Fachkräftemangel: Schwere Pflegefälle werden abgelehnt
Die Kosten seien gestiegen, zugleich ließen sich Pflegekassen und Kommunen ungewöhnlich viel Zeit mit der Refinanzierung, die dann nicht einmal auskömmlich sei. Obendrauf komme der Fachkräftemangel, der Häuser zu drastischen Gegenmaßnahmen nötige, um einen ruinösen Bettenabbau zu verhindern.
Denn um das Personal vor der Überlastung zu schützen, nähmen Einrichtung bereits jetzt eher die weniger schweren Pflegefälle auf und lehnten andere ab. „In der Pflege findet eine Triage statt“, gibt Wallrafen rundheraus zu. „Wenn ich als Geschäftsführer weiß, dass meine Beschäftigten auf dem Zahnfleisch gehen, entscheide ich mich für den weniger pflegeintensiven Fall. Ich trage Verantwortung für mein Personal und unsere Bewohner. Wenn meine Leute überlastet sind, ist niemandem geholfen.“
Die Zahl der Pleiten in der Pflege hat sich in NRW verdreifacht
Über lange Zeit traten Insolvenzen in der Pflegebranche nur vereinzelt auf. Seit Jahresanfang kann man eine steigende Anzahl von Pleiten beobachten: Allein in den ersten sechs Monaten 2023 meldeten laut Landesgesundheitsministerium 73 Einrichtungen in NRW eine Insolvenz an. Zwar gibt es landesweit über 3000 stationäre Einrichtungen – die Zahl der Pleiten hat sich im Vergleich zum gesamten Vorjahr aber verdreifacht.
Eine noch deutlichere Sprache sprechen Angaben des Branchendienstes Pflegemarkt.de. Demnach sind bis einschließlich September bundesweit rund 300 Pflegeheime mit insgesamt 22.000 Betten für pflegebedürftige Menschen und 210 Pflegedienste mit 10.500 Plätzen von Insolvenzen betroffen. Zum Vergleich: 2022 gab es 74 Insolvenzmeldungen in der Pflegebranche.
Jedes dritte Pflegeheim erwartet zum Jahresende ein dickes Minus
Und die Lage könnte sich weiter verschlimmern: Laut dem „Care Monitor“ der Unternehmensberatung Roland Berger rechnet jedes dritte Pflegeheim in Deutschland damit, bis zum Jahresende rote Zahlen zu schreiben. Die Stimmung ist pessimistisch wie nie zuvor: 85 Prozent der befragten Heimträger fürchten, dass sich ihre Lage in den nächsten fünf Jahren verschlechtert. Ein Negativrekord, heißt es von Roland Berger.
Die ersten Pflegepleiten in diesem Jahr waren groß: Zum Jahresanfang sind gleich fünf Ketten in die Insolvenz gegangen. Betroffene Firmen nannten auch den Fachkräftemangel, aber auch hohe Krankenstände infolge der Corona-Pandemie als Gründe, dass zu viele Betten leer bleiben mussten und sich Heime nicht mehr rechneten.Branchenkenner nennen einen weiteren Grund: Seit September 2022 können Pflegeheime ihre Leistungen nur noch mit den Pflegekassen abrechnen, wenn sie ihre Beschäftigten nach Tarif bezahlen. Das habe innerhalb kurzer Zeit zu erheblichen Mehrkosten geführt, die zusammen mit der starken Inflation den Druck erhöht haben.
Selbst gemeinnützige Betreiber von Pflegeheimen sind von Insolvenzen betroffen
Die Welle jetzt sei aber eine andere, betont André Löckelt, Geschäftsführer des Katholischen Altenzentrums St. Josefshaus Herbede in Witten. „Jetzt sind auch die Träger betroffen, die schon lange nach Tarif zahlen.“ Ihr Grundproblem ist, dass die Heimbetreiber massiv in Vorkasse treten müssen, was gerade kleineren Unternehmen das Wasser bis zum Hals steigen lässt.
Die Kosten eines Pflegeheims werden in Deutschland von verschiedenen Händen bezahlt. Mit den Pflegekassen verhandeln Träger sogenannte Pflegesätze – das ist die Summe, die ein Heim je Bewohner und Pflegetag erhält. Verhandlungen finden aber nur einmal im Jahr statt – die Pflegesätze steigen also erst mit erheblicher Verzögerung und derzeit besonders spät: Die Verhandlungen erstrecken sich diesmal oft auf über acht Monate statt weniger Wochen, heißt es aus der Pflege. Die in der Zwischenzeit angefallenen Mehrkosten bestreiten die Heimbetreiber nach eigenen Angaben aus Rücklagen, so sie diese haben. Im Fall eines einzelnen Recklinghäuser Heims waren das rund 180.000 Euro.
Wirtschaftlicher Druck von vielen Seiten: Wäscherei fordert 90.000 Euro mehr
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Und selbst wenn die Pflegesätze steigen, decken sie Mehrkosten nicht voll ab, wie Löckelt an einem Beispiel festmacht: Eine Wäscherei, die sein Pflegeheim seit Jahren beauftragt hat, verlange jetzt wegen des höheren Mindestlohns und steigender Energiepreise 90.000 Euro mehr für seine Dienste. Die Pflegekassen wollten aber nur 3400 Euro mehr für Sachkosten insgesamt drauflegen - das sei nicht darstellbar.
Genauso müssen Träger allzu oft auf Gelder der Sozialämter warten. Da das Leben im Heim teurer wird, sind immer mehr Bewohnerinnen und Bewohner bei der Zahlung ihres Eigenanteils auf Gelder vom Staat angewiesen. „Hilfe zur Pflege“ nennt man das, geprüft werden Anträge von den Sozialämtern. Sie kommen aber kaum hinterher, wie Jörg Klomann, Leiter der Gesundheits- und Pflegegeschäfte der Diakonie im Kreis Recklinghausen berichtet: „Allein für unsere drei Häuser warten wir auf rund 480.000 Euro.“ Auch hier gehe die Diakonie in Vorleistung.
Geschäftsführer sparen und verschieben Investitionen
Das gleiche Bild beim sogenannten Leistungszuschlag, mit dem Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) die gestiegenen Heimkosten für Bewohnerinnen und Bewohner abmildern will: Die Pflegeheime stellen einen Teil der Eigenanteile nicht den Bewohnern, sondern den Pflegekassen in Rechnung – warten aber vielfach auf ihr Geld: Auf 112.000 Euro beziffert die Diakonie in Recklinghausen diese Summe.
So steigen die Fehlbeträge. Die Folgen des wirtschaftlichen Drucks machen sich in den Häusern bemerkbar, wie Aussagen von verschiedenen Stellen deutlich machen. Investitionen etwa in neue Betten werden verschoben. Um zu sparen, suchten Führungskräfte eigens nach den günstigsten Falthandtüchern und Handschuhen. Rücklagen schwinden.
Geld für Hitzeschutz oder Umbauten fehlt in den Pflegeheimen oft
„Wir haben seit drei Jahren keine Rücklagen mehr bilden können, obwohl wir genau das machen müssten“, sagt André Löckelt in Witten. Etwa für Hitzeschutzmaßnahmen, wie die Politik sie in heißen Sommern gerne von Heimbetreibern einfordert. Oder für einen einfachen Abstellraum für Rollatoren, die beim Besuch der Friseurin im Heim den Flur blockieren und Rettungswege versperren. Rund 60 Prozent der Menschen in den Pflegeheimen sind nach Betreiberangaben immobil.
Was da besonders ärgert, ist aus Pflegesicht eine Ungleichbehandlung im Gesundheitswesen. Aktuelles Beispiel: Während Krankenhäuser vom Bund für höhere Energiekosten infolge des Ukrainekrieges rund sechs Milliarden Euro bereitgestellt bekommen, stehen Pflegeheimen laut Bundesgesundheitsministerium zwei Milliarden zur Verfügung.
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In Witten fasst André Löckelt die Situation mit drastischen Worten zusammen: „Wir sind nur noch Brandlöscher. Die Pflege hatte es schon immer schwer, aber jetzt fehlt das Licht am Ende des Tunnels.“