Arnsberg. Südwestfalens Wirtschaft verliert an Wettbewerbsfähigkeit. Viele Firmen investieren im Ausland. Die IHK-Chefs erklären, wie ernst die Lage ist.

Südwestfalens Wirtschaft erlebt einen Abschwung. Nach Angaben der drei Industrie- und Handelskammern Arnsberg, Siegen und Hagen ist der Wirtschaftsraum nicht mehr drittstärkste Industrieregion Deutschlands. „Die Lage ist absolut kritisch für die gesamte deutsche Wirtschaft, aber insbesondere für die Industrie“, erklärt IHK-NRW-Präsident Ralf Stoffels, der gleichzeitig an der Spitze der Hagener Kammer steht.

Die Einschätzung wird auch in Siegen und Arnsberg geteilt. Südwestfalen erlebe eine wirtschaftliche Negativentwicklung, also eine Rezession. Man sei mittendrin und die Situation werde sich kurzfristig nicht ändern. Dies spiegele die aktuelle Befragung unter den rund 80.000 Mitgliedsunternehmen der Kammern wider, an der sich mehr als 1300 beteiligt haben.

Noch nie waren demnach die Risiken für die Entwicklung in Summe so hoch. Hohe Energie- und Rohstoffpreise, Kaufzurückhaltung im Inland, lähmende Bürokratie statt schneller Transformation, drohende höhere Steuerbelastungen statt Entlastungen sowie hohe Arbeitskosten sorgten für eine immense Verunsicherung. „Die Welt spielt gerade ein Stück verrückt. In der Befragung ist der Nahost-Konflikt noch gar nicht berücksichtigt“, sagt Arnsbergs IHK-Präsident Andreas Rother. „Wir brauchen von der Politik Sicherheit“, fordert der IT-Unternehmer. Die Politik kündige zwar an, die Regierung käme aber gar nicht oder zumindest nicht schnell genug ins Handeln, um die Entwicklung wenigstens zu stoppen, sind sich alle drei Kammern einig.

Teilverlagerungen ins Ausland

Investitionen werden zunehmend im Ausland getätigt. Rund 20 Prozent der befragten Unternehmen erwägen konkret im Ausland zu investieren. Damit sind auch Teilverlagerungen gemeint. „Statt Dekarbonisierung erleben wir eine schleichende Deindustrialisierung“, urteilt Walter Viegener, Präsident der Kammer Siegen. Der Unternehmer (Viega) aus Attendorn sieht „die Inlandsnachfrage im Sinkflug“.

Doppelte Belastung: Mauterhöhung für Lkw und A 45 Nachteil

Südwestfalen sei zwar nach wie vor die stärkste Industrieregion in NRW, habe aber gegenüber den stärksten Wettbewerbern verloren. Die sind in Bayern und Baden-Württemberg zu finden. Einen speziellen Grund für den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der Region nennt Hagens IHK-Hauptgeschäftsführer Ralf Geruschkat: „Die mangelhafte Infrastruktur wirkt sich bereits aus.“ Die A-45-Talbrücke Rahmede ist hier nur ein Beispiel.

Ein Drittel der Betriebe plant mit weniger Personal

Eine Konsequenz könnten Entlassungen in Südwestfalen sein. Ein Drittel der befragten Unternehmen gaben an, trotz Fachkräfteproblematik in den kommenden sechs Monaten mit weniger Personal auskommen zu wollen. „Ich glaube, wir können uns warm anziehen, auch wenn ich nicht die Kernbelegschaften gefährdet sehe“, prognostiziert Siegens Kammerchef Klaus Gräbener sinkende Beschäftigungszahlen in Südwestfalen.

Vorstellung der Zahlen erstmals gemeinsam

Die Präsentation der Herbst-Umfrage war ein Novum. Am Montag stellten die drei Industrie- und Handelskammer in Südwestfalen, Hagen, Siegen und Arnsberg, die Ergebnisse erstmals in der Geschichte gemeinsam vor. Ein komplettes Bild der starken Wirtschaftsregion, das ausgerechnet bei dieser Premiere ziemlich düster ausfiel. Das Konjunkturbarometer, der Gradmesser für die Befindlichkeit der Wirtschaft in Südwestfalen, stürzt auf den Wert von 81 ab. Alles unter 100 ist schlecht.

Die Spitzen der drei Industrie- und Handelskammern in Südwestfalen. Von links: Ralf Geruschkat (Hauptgeschäftsführer SIHK Hagen), Ralf Stoffels (Präsident SIHK Hagen), Klaus Gräbener (HGF IHK Siegen), Andreas Rother (Präsident IHK Arnsberg), Jörg Nolte (HGF IHK Arnsberg) und Walter Viegener (Präsident IHK Siegen) am Montag, 23. Oktober 2023 bei der ersten gemeinsamen Konjunkturpressekonferenz der drei Kammern in Südwestfalen, die im Gebäude der IHK Arnsberg stattfand. 
Die Spitzen der drei Industrie- und Handelskammern in Südwestfalen. Von links: Ralf Geruschkat (Hauptgeschäftsführer SIHK Hagen), Ralf Stoffels (Präsident SIHK Hagen), Klaus Gräbener (HGF IHK Siegen), Andreas Rother (Präsident IHK Arnsberg), Jörg Nolte (HGF IHK Arnsberg) und Walter Viegener (Präsident IHK Siegen) am Montag, 23. Oktober 2023 bei der ersten gemeinsamen Konjunkturpressekonferenz der drei Kammern in Südwestfalen, die im Gebäude der IHK Arnsberg stattfand.  © Jens Helmecke - WP | Jens Helmecke

In den Details unterscheiden sich die verschiedenen Branchen von Industrie, über Verkehr, Bau, Handel, Dienstleistungen und Gastgewerbe etwas. Die Kammern haben aber fünf Risiken ausgemacht, die alle einen und an denen dringend gearbeitet werden müsse, um aus der Krise zu kommen. Die Experten sprechen mittlerweile von einer Rezession, die mindestens eine Weile anhalten wird. Das bedeutet: die Wirtschaftsleistung sinkt, und zwar offenbar stärker als in anderen deutschen Wirtschaftsräumen.

In den Risiken scheint ganz Deutschland vereint. Dazu gehöre unter anderem die sinkende Inlandsnachfrage. Hier käme beispielsweise die Rückabwicklung der Mehrwertsteuersenkung im Gastgewerbe auf erneut 19 Prozent einem veritablen Rückschlag gleich. „Für die Branche ist das eine Bedrohung“, sagt Arnsbergs IHK-Präsident Andreas Rother.

USA locken Unternehmen an

Ähnliches gelte für die Erhöhung der Lkw-Maut. Von der Bundesregierung als Reform in Richtung Klimaneutralität verkauft und vom Parlament gerade beschlossen, ist dieser Weg wohl nicht grundsätzlich falsch, aber „die Erhöhung kommt zur Unzeit“, kritisiert Rother. Transporte werden ab Dezember deutlich teurer, ohne dass im Straßengüterverkehr auch nur ansatzweise alternative, CO2-neutrale Antriebe für Lkw und Infrastruktur in ausreichendem Maße vorhanden wären. Die Mautkosten merken werden Unternehmen ebenso wie Privatkunden. Für Südwestfalen bedeute die Mauterhöhung das Gegenteil von dem, worum seit 2022 gebeten wird: „Statt einen Nachteilsausgleich wegen der Brückensperrung kommt mit der Maut eine zusätzliche Belastung für die Region“, sagt Siegens Kammerchef Klaus Gräbener.

Die im internationalen Vergleich drastisch höheren Energie- und Rohstoffpreise gehören zu den stärksten Treibern für das, was gerade zu beobachten ist: Immer mehr Unternehmen orientieren sich ins Ausland, in erster Linie aus der Industrie. Aktuell scheinen die USA so etwas wie das gelobte Land zu sein. Das Steuersenkungs- und Subventionsprogramm der US-Regierung, der sogenannte Inflation Reduction Act (IRA) lockt immer mehr Unternehmen. Die von der Europäischen Union in Aussicht gestellte adäquate Antwort zur Verbesserung der Rahmenbedingungen in Europa sehen die Experten derzeit nicht. „Der Unterschied zum IRA ist, dass es keine europäische Steuerpolitik gibt“, sagt Jörg Nolte, Hauptgeschäftsführer der Kammer in Arnsberg. Von daher könne es – anders als in den USA – auch keine konkreten Steuererleichterungen aus Brüssel geben.