Hemer/Bochum. Heinz-Dieter Tiemeyer, einer der größten Autohändler Deutschlands, sieht eine „automobile Krise“ aufziehen - und den Autokauf im Umbruch.

Die Autowelt befindet sich im Wandel, nicht nur beim Antrieb. Auch beim Kauf wird vieles anders. „Die Markentreue ändert sich ganz deutlich vom Verbrenner zum Elektroauto“, beobachtet Heinz-Dieter Tiemeyer. Sprich: Die deutschen Autobauer sollten sich bei ihren Kunden auf wenig bis nichts mehr verlassen.

Die Tiemeyer-Gruppe ist mit mehr als 39.000 verkauften Autos im Jahr, einem Milliardenumsatz und rund 2000 Beschäftigten einer der größten Autohändler Deutschlands. Die Prognose des Experten: Der Autokauf wird in Zukunft völlig anders funktionieren. Das Autohaus an jeder Ecke könnte demnach bald Geschichte sein. „Ich könnte mir vorstellen, dass es in zehn Jahren die Hälfte der Autohäuser nicht mehr gibt“, prognostiziert Tiemeyer. Bislang hatte er die Marken VW, Audi, Skoda, Seat und die aufstrebende Marke Cupra im Angebot. Seit Mai hat die Tiemeyer AG mit Hyundai auch einen asiatischen Hersteller im Programm. Ein absoluter Kulturwandel.

Agenturmodell ändert Verkauf

Hersteller wie Volkswagen streben einen Umbau des Vertriebs an. Das Agenturmodell, bei dem der Autobauer zum Autoverkäufer wird und der Händler mehr oder weniger nur noch vermittelt, wird forciert. Rabattverhandlungen werden Geschichte. Am liebsten hätten die Hersteller EU-weit einen Preis von Stockholm bis Sizilien. Die Folge für Händler: Geringe Verdienstspannen. „Wir werden wahrscheinlich nicht einmal mehr Skonto geben können“, sagt Tiemeyer. Im Volkswagenkonzern gilt dieses Modell bereits für die Elektroautos, für die Verbrenner werde es folgen. Auch Hersteller wie Daimler, Ford oder Stellantis mit den Marken Opel, Peugeot, Fiat und Co. dürften auf dieses Modell setzen, glaubt Tiemeyer.

Der Autohändler Heinz-Dieter Tiemeyer aus Bochum verbuchte für 2023 einen Rekordumsatz von 1,1 Milliarden Euro – nur mit seinen Marken aus dem Volkswagenkonzern. Dennoch sieht er gerade eine „automobile Krise“ auf die Branche zukommen. Die Nachfrage der Kunden ist eingebrochen.
Der Autohändler Heinz-Dieter Tiemeyer aus Bochum verbuchte für 2023 einen Rekordumsatz von 1,1 Milliarden Euro – nur mit seinen Marken aus dem Volkswagenkonzern. Dennoch sieht er gerade eine „automobile Krise“ auf die Branche zukommen. Die Nachfrage der Kunden ist eingebrochen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Der eigentliche Kauf läuft dann über das Internet. Beim Händler gibt es noch die Probefahrt und die Übergabe, dafür erhält er eine Provision. Volkswagen hat für die vollelektrischen ID-Modelle dieses System vor einem Jahr eingeführt. Die Konzerntochter Audi hat gerade angekündigt, ab 2024 ebenfalls zum Agenturmodell überzugehen.

Europäische Autobauer versuchen dabei, in Teilen die Strategie von Elon Musk mit seiner Marke Tesla zu kopieren. Tesla kommt ohne viele Showrooms oder gar riesige und teure Autohäuser aus, behauptet sich mit einer übersichtlichen Modellpalette am Markt.

Der Markt bricht gerade ein

Autoexperte Stefan Bratzel, Chef des Centers of Automotive Management (CAM) in Bergisch-Gladbach, geht ebenfalls davon aus, dass sich die Zahl der Händler in Deutschland drastisch verändern, die Zahl der Standorte sich aber nicht analog reduzieren werde: „Die Autohersteller (OEM) wünschen sich, die Fahrzeuge direkt an die Kunden zu verkaufen, aber es fehlt ihnen an Know-how. Die OEM haben sich bezüglich ihrer Kompetenzen im Vertrieb überschätzt“, sieht Bratzel die Zukunft für Autohändler nicht ganz so düster. Das Verhältnis zwischen Händlern und Herstellern habe sich allerdings merklich abgekühlt. Dass Unternehmer wie Tiemeyer ihre Markentreue über Bord werfen und sich breiter aufstellen, sei für die Händler sogar wichtig, meint Auto-Professor Bratzel.

Auto-Professor Dr. Stefan Bratzel (Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach) glaubt, dass sich die Autobauer beim Vertrieb überschätzen: „Die Autohersteller (OEM) wünschen sich, die Fahrzeuge direkt an die Kunden zu verkaufen, aber es fehlt ihnen an Know-how.“
Auto-Professor Dr. Stefan Bratzel (Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach) glaubt, dass sich die Autobauer beim Vertrieb überschätzen: „Die Autohersteller (OEM) wünschen sich, die Fahrzeuge direkt an die Kunden zu verkaufen, aber es fehlt ihnen an Know-how.“ © dpa-tmn | Frank Rumpenhorst

2023 könnte das vorerst letzte gute Jahr für den Handel sein. Die Tiemeyer-Gruppe mit Stammsitz im Herzen des Ruhrgebiets in Bochum und einigen Standorten im Sauerland und Bergischen Land verbucht tatsächlich erstmals in der Unternehmensgeschichte in diesem Jahr weit über eine Milliarde Euro Umsatz. Ein Umsatzplus von mehr als 200 Millionen Euro, bei dem unter dem Strich aber kaum mehr Gewinn als im Vorjahr bleibt. Im Ergebnis seien dabei die Umsätze und Gewinne der kürzlich übernommenen Hyundai-Händlerkette Darmas (sechs Standorte in NRW) noch nicht mitgerechnet, erklärt Tiemeyer am Standort Hemer, den er im vergangenen Jahr von Piepenstock übernommen hatte.

Gute Zahlen, aber bereits jetzt deuten die Signale auf eine Kehrtwende. Aktuell bekommen viele Autohändler kaum noch Fahrzeuge vom Hof. Der Auftragseingang ist seit dem Sommer massiv eingebrochen. Vermehrt wechselten Kunden übrigens vom E-Auto zurück auf Verbrenner. „Über alle Marken betrachtet haben wir in den vergangenen drei Monaten einen Auftragsrückgang von durchschnittlich 30 Prozent zu verzeichnen. Wir schlittern gerade in eine richtige automobile Krise hinein“, sagt Tiemeyer.

Eine Erklärung hat Thomas Peckruhn, Vizepräsident des Zentralverbands Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe und Sprecher des Fabrikathandels in Deutschland: „Die Lieferrückstände der Hersteller sind zum großen Teil abgebaut und die Nachfrage nach neuen Fahrzeugen ist – vor allem im privaten Sektor – gering.“ Insbesondere bei den Kleinwagen und der Kompaktklasse „deuten Preisentwicklung und Verfügbarkeit auf eine zunehmend schwierigere Absatzsituation hin“, so Peckruhn. Dies gilt jetzt auch für E-Autos. Laut Kraftfahrtbundesamt sind die Zulassungen von vollelektrischen Fahrzeugen im September 2023 gegenüber dem Vorjahresmonat um 28,6 Prozent niedriger. Bei Plug-In-Hybriden, für die es keine Förderung mehr gibt, sank das Interesse mit minus 45,7 Prozent noch deutlicher. Benziner (+9,1 %) und Diesel (+4,6 %) verzeichneten dagegen jeweils Zuwächse.

E-Automarkt stockt

Ein Grund sei die mangelnde Förderstrategie für einen massiven Umstieg von Verbrennermodellen auf Elektrofahrzeuge. Die von der Bundesregierung angestrebte Zahl von 15 Millionen in Deutschland zugelassenen Elektrofahrzeugen bis zum Jahr 2030, um den Klimaschutzfahrplan einzuhalten, erscheint utopisch. Zumal die Förderung für Gewerbekunden gerade eingestellt wurde. „Wenn die Gewerbetreibenden die Flotte nicht umrüsten, wird es schwierig. Eigentlich müsste man die kommenden fünf, sechs Jahre Elektrofahrzeuge fördern. So lange, bis der Verbrenner ausläuft“, rät Tiemeyer.

Auto-Experte Bratzel hält zwar eine schrittweise Reduzierung der Förderung für wichtig, findet es aber falsch, dass der Anreiz für gewerbliche Kunden komplett gestrichen wurde. Das Ziel, 15 Millionen in Deutschland zugelassene Elektroautos, sei kaum zu erreichen, so Professor Bratzel: „Es wird sogar schwierig, zehn Millionen zu erreichen. Realistisch sind eher sieben bis acht Millionen bis 2030.“

Chinesen kommen – und gehen

Dass die Chinesen mit ihren Elektroautos den deutschen und den europäischen Automarkt nachhaltig aufmischen und Traditionsmarken verdrängen werden, glaubt Heinz-Dieter Tiemeyer eher nicht. „Ich glaube, es werden ganz viele chinesische Marken kommen – und auch ganz viele wieder gehen. Vielleicht bleiben zehn Prozent.“ Dass die Tiemeyer-Gruppe als einer der großen Händler für Volkswagen jetzt Hyundai anbietet und nicht eine chinesische Marke, hat mit mangelndem Vertrauen zu tun. Die Teileversorgung für BYD und Co., Unklarheit beim Wert eines gebrauchten „Chinesen“ und nicht zuletzt die Frage, ob sich Europa nicht sogar mit Handelszöllen gegen Einfuhren aus China schützen wird, waren zu viele Fragezeichen für den Selfmade-Kaufmann.