Essen. Blüten des Fachkräftemangels: Indeed-Deutschlandchef sagt, warum viele Firmen Vier-Tage-Wochen anbieten und Pflegekräfte zur Zeitarbeit wechseln.
Die neuen Lockmittel der Arbeitgeber, die Wünsche der Jobsuchenden nach mehr Freizeit, das brachliegende Fachkräftepotenzial unter den Kriegsflüchtlingen – wenige können den Wandel und die Probleme des deutschen Arbeitsmarktes besser mit Daten unterfüttern als Frank Hensgens. Er führt die Geschäfte der weltgrößten Jobplattform Indeed in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hierzulande listet Indeed mehr als doppelt so viele freie Stellen auf seinem Portal wie die staatliche Bundesagentur für Arbeit. Vor allem Menschen, die aus einer ungekündigten Festanstellung heraus etwas Neues suchen, nutzen dafür die privaten Jobportale. Hensgens sagt im Gespräch mit unserer Redaktion, warum der Fachkräftemangel weiter zunimmt, die Macht der Beschäftigten wächst und Deutschland anders mit Flüchtlingen umgehen sollte.
„Ingrid erklärt Indeed“ – Herr Hensgens, Hand aufs Herz: Können Sie Ihren Werbeslogan noch hören?
Frank Hensgens (lacht): Ich weiß, dass das polarisiert, die einen nervt es, die anderen feiern es. Ich gehöre zu denen, die das wirklich und ganz ehrlich geil finden. Die Spots leben von der Schauspielerin und die ist absolut klasse. Tatsächlich heißt meine Schwester auch Ingrid und sieht der Schauspielerin nicht unähnlich, das beschert uns viele lustige Geschichten.
Die weltgrößte Stellenbörse
Indeed ist mit rund 350 Millionen Nutzern im Monat nach eigenen Angaben das weltgrößte Jobportal. In Deutschland konkurriert Indeed etwa mit Stepstone, Xing, Kimeta und Monster. Neben eigenen Anzeigen listet Indeed auch externe Online-Jobangebote.
Frank Hensgens ist seit 2013 Geschäftsführer von Indeed in den deutschsprachigen Ländern, also in Deutschland, Österreich und der Schweiz, der „DACH-Region“. Weltweit ist das in den USA gegründete Unternehmen in rund 60 Ländern vertreten.
Sie haben auf Ihrem Jobportal 1,7 Millionen Stellenangebote in Deutschland. Werden es immer mehr, weil es schwerer wird, die Stellen zu besetzen?
Nein, das ist nicht der Hauptgrund, sondern dass mehr Stellen ausgeschrieben werden und neue Jobs entstehen. Das hat mit der Pandemie 2020 angefangen und sich fortgesetzt. Viele haben in dieser Zeit den Job und die Branche gewechselt, sind etwa aus der Gastronomie und Hotellerie in die Logistik oder den Einzelhandel gegangen. Dadurch ist viel Bewegung in den Arbeitsmarkt gekommen. Aktuell schauen sich jeden Monat mehr als vier Millionen Menschen auf unserem Portal nach Stellen um, jeder zehnte Beschäftigte sucht also aktiv einen anderen Job.
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Dauert es wegen des Fachkräftemangels länger, bis eine Stelle besetzt werden kann?
Das lässt sich so nicht sagen, die meisten Stellen sind nach ein, zwei Monaten besetzt, bei hoch qualifizierten Tätigkeiten kann es auch mal länger dauern. Entscheidend ist, und das empfehlen wir den Unternehmen dringend, dass sie möglichst sofort auf Bewerbungen reagieren und sie nicht wie früher wochenlang liegen lassen. Denn dann ist der Kandidat weg. Heute sind es die Unternehmen, die sich bei den Kandidaten bewerben ...
… und ihnen entsprechend viele Extras bieten müssen?
Wir sehen das bei vielen Unternehmen, sie bieten übertarifliche Gehälter an, das Geld ist auch für die junge Generation immer noch der wichtigste Punkt. Aber auch die Arbeitszeit und angenehme Bedingungen spielen eine immer größere Rolle. Handwerksbetriebe und auch Metallunternehmen bieten inzwischen Vier-Tage-Wochen an. Ich kenne einen Karosseriebetrieb, der von einer 40-Stunden-Woche auf vier Tage mit je neun Stunden gegangen ist. Die Arbeitszeitverkürzung muss er selbst finanzieren, aber dafür kriegt er wieder genügend Mitarbeiter.
Indeed-Chef: Deutschland kriegt ein volkswirtschaftliches Problem
Gut für diesen Betrieb, schlecht für alle anderen, wenn immer weniger gearbeitet wird.
Ja, das ist ganz klar ein Dilemma: Wenn wir weniger Arbeitskräfte haben, müssten sie eigentlich mehr arbeiten. Weil sich aber der Markt komplett gedreht hat, sitzen die Kandidaten erstmals am längeren Hebel und können auch eine Vier-Tage-Woche durchsetzen. Und weil in anderen Industrieländern der Arbeitskräftemangel noch nicht so ausgeprägt ist, kriegt Deutschland ein volkswirtschaftliches Problem.
Was tun?
Die Unternehmen versuchen, das mit höherer Produktivität und Künstlicher Intelligenz (KI) aufzufangen. Aber in der Schweiz, wo jeder Beschäftigte rund 450 Stunden im Jahr mehr arbeitet als in Deutschland, ist man nicht weniger produktiv und hat auch KI entdeckt. Mehr Geld zu bieten, geschieht bereits, je enger der Arbeitsmarkt wird, desto stärker steigen die Gehälter. Der größte Hebel in Deutschland wäre es deshalb, die Erwerbsquoten zu steigern, indem vor allem mehr Frauen und seltener in Teilzeit arbeiten. Dafür fehlen aber Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Und natürlich können wir es uns auch nicht leisten, dass jedes Jahr 50.000 Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen.
Geben sich Branchen, in denen die Personalnot am größten ist, mehr Mühe – sieht man das in den Stellenangeboten?
Ja, in der Pflege etwa sind die Bezahlung und die Bedingungen besser geworden. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass Personaldienstleister, die Pflegekräfte etwa Altenheime ausleihen, Festangestellte abwerben. Etwa damit, dass sie dann keine Nachtschichten mehr machen müssten. Ich kann jede und jeden verstehen, der sich dadurch locken lässt. Die Frage ist nur: Wer kümmert sich dann nachts um die alten Menschen?
Wo drückt der Fachkräftemangel am stärksten?
Es fehlen längst nicht nur Fachkräfte, sondern es fehlt Personal an allen Ecken und Enden. Viele Unternehmen leiden sehr darunter, es werden ganze Produktionsstätten aus Personalmangel geschlossen, Restaurants begrenzen ihre Öffnungszeiten. Das tut vielen Betrieben richtig weh, das sehen wir seit 2020 extrem – im Gesundheitswesen, in der Pflege, im Handwerk, in Gastronomie und Hotellerie und ganz massiv auch im öffentlichen Dienst. Deutschlands Demografieproblem ist größer als in fast allen anderen Industrieländern, unsere Erwerbsbevölkerung ist zum Beispiel sieben Jahre älter als in den USA.
Und die USA haben mehr Arbeitsmigranten.
Genau, die USA, Kanada und Großbritannien sind klassische Einwanderungsländer, das muss Deutschland erst noch werden.
Reicht das von der Ampel-Regierung geplante neue Einwanderungsgesetz dafür?
Es ist gut, dass es kommt und kann schätzungsweise rund 75.000 Arbeitsmigranten pro Jahr ins Land bringen. Das reicht aber natürlich nicht aus, um auf die benötigte Nettozuwanderung von 400.000 zu kommen, die laut Bundesagentur für Arbeit nötig wäre.
Was fehlt also noch?
In erster Linie eine echte Willkommenskultur. Stattdessen haben wir eine gesellschaftliche Debatte, die durch Populismus in die ganz falsche Richtung läuft.
Wir haben Millionen Flüchtlinge im Land, die sich nach den Erfahrungen der Bundesagentur bisher sehr schwer tun, in Arbeit zu kommen. Was ist mit ihnen?
Ich sehe ein riesiges Potenzial unter den Flüchtlingen. Viele sind hoch qualifiziert, arbeiten aber, wenn überhaupt, in Hilfsjobs. Wir sind hier auch im Vergleich zu anderen Ländern viel zu bürokratisch. Zuerst muss die Sprache gelernt werden, dann dauert es ewig, bis die Berufsabschlüsse anerkannt werden. Derlei Formalismen gibt es in anderen Ländern so nicht, das muss alles viel schneller gehen. Zumal Migranten die Sprache viel schneller lernen, wenn sie arbeiten. Ich habe selbst ukrainische Flüchtlinge zu den Ämtern begleitet, es ist zum Verzweifeln, wie zuweilen mit ihnen umgegangen wird.
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Wie kann KI helfen, den Fachkräftemangel zu lindern?
Hensgens: Wir sehen nicht, dass Arbeitsplätze durch KI komplett verloren gehen. Sie verändern sich aber, können mit KI produktiver werden. Gerade in der Verwaltung sehe ich da großes Potenzial für Verbesserungen, nur muss der öffentliche Dienst überhaupt erst digitalisiert werden, da liegen wir im internationalen Vergleich weit zurück. Gelingt das nicht, werden viele öffentliche Dienstleistungen einfach wegfallen.
Wie groß sehen Sie die Chance, dass Menschen, die KI in ihrem Job zunehmend überflüssig macht, etwa den Versicherungsmakler, in Branchen wechseln, denen die Fachkräfte fehlen?
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Hensgens: Wir raten Unternehmen in allen Gesprächen, sich auch für Quereinsteiger zu öffnen. Und tatsächlich sind die Chancen für einen Quereinstieg besser denn je. Klar ist aber auch: Nicht jeder ist für jeden Job geeignet. Entscheidend ist, offen für Veränderungen zu bleiben und sich neue Fähigkeiten anzueignen. Wer es schafft, sich in das so genannte ,Prompten“ einzuarbeiten und zusammen mit der generativen KI produktiver zu werden, wird seinen Job vermutlich behalten. Wer nicht, wird es schwer haben.