Essen. Immer mehr Medikamente sind in NRW knapp. Die Erkältungswelle könnte die Engpässe noch verschlimmern.
Im Verkaufsraum der Essener Stern-Apotheke wirken die Regale noch gut gefüllt, kaum fallen leere Flächen ins Auge. Doch im Lager dahinter zeigt sich ein anderes Bild: Hier klaffen zunehmend Lücken, die Vorräte schwinden spürbar.
In Deutschland fehlen inzwischen mehr als 500 Arzneimittel – von Antibiotika und Insulinen über Schmerzmittel bis hin zu Präparaten wie Salbutamol und Kochsalzlösungen. Die Liste der Engpässe wächst stetig und bringt viele Apotheken an ihre Belastungsgrenze.
Jörg Lewik, Inhaber der Stern-Apotheke, zieht eine Schublade im Lager auf – fast leer, nur zwei Packungen liegen noch darin. Kopfschüttelnd deutet er auf die wenigen verbliebenen Bestände und sagt: „Wir tun, was wir können!“ Dann fügt er hinzu: „Aber wir stoßen an unsere Grenzen.“
Kaum ausgesprochen, verschwindet Lewik im Nebenraum und kehrt mit einem Schreiben zurück – eine Stornierung. „Diese Bestellung haben wir vor über einem Jahr aufgegeben, im November 2023,“ erklärt er und hält das Dokument hoch. „Die Absage kam erst vor ein paar Tagen – überraschend und ohne jegliche Erklärung.“ Solche Situationen sind inzwischen Alltag: Immer häufiger fehlen Medikamente ohne jede Vorwarnung.
„Sich vorbereiten? Keine Chance. Man wird einfach getroffen.“ Die Liste der kaum oder gar nicht verfügbaren Medikamente – rund 200 bis 250, die zur Grundversorgung gehören – wird immer länger. Ein Ende der Engpässe? Sei immer nicht in Sicht.
„Zu einigen Medikamenten gibt es Alternativen, aber bei anderen, wie Antibiotika- und Kortison-Augensalben, sind wir seit 12 Monaten ohne Nachschub. “
Breite Palette der Engpässe in NRW
Von Antibiotika und Insulinen bis zu Schmerz- und Betäubungsmitteln sowie ADHS-Medikamenten für Kinder – die Liste der fehlenden Medikamente umfasst viele Präparate. Die größten Lücken betreffen Herz-Kreislauf-Medikamente, Schmerzmittel und Antidepressiva.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) stellt eine Liste der gemeldeten Lieferengpässe zur Verfügung, die derzeit knapp 500 Medikamente umfasst. Nina Grunsky, Pressesprecherin des Apothekerverbands Westfalen-Lippe, weist jedoch darauf hin, dass diese Zahl möglicherweise nicht alle Engpässe widerspiegelt, da rezeptfreie Medikamente und nicht gemeldete Fälle in der Statistik fehlen. „Der tatsächliche Umfang des Problems ist noch weit größer,“ betont Grunsky. Die Liste führt vor allem zwei Hauptursachen auf: Produktionsprobleme und eine gesteigerte Nachfrage, die für etwa 60 Prozent der Engpässe verantwortlich sind.
„Rund jede zweite Verordnung, die Patienten in Apotheken einreichen, ist aktuell von Lieferengpässen betroffen“, erklärt Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein. Bundesweit leiden täglich etwa 1,5 Millionen Menschen unter den Folgen der Medikamentenknappheit – allein in Nordrhein-Westfalen seien es rund 300.000 Patienten.
Der unsichtbare Aufwand hinter der Theke
Die Patienten hätten bisher meist nichts von den Engpässen bemerkt und würden am Ende die Apotheke trotzdem noch mit ihrem Medikament verlassen, sagt Lewik, doch das ändere sich gerade. Für die Apotheken bedeute jede einzelne Packung einen Kraftakt. „Oft bleibt uns nur die Wahl, auf Alternativen auszuweichen – wenn es sie überhaupt gibt“, erläutert Lewik.
Die Angestellten hingen am Telefon, versuchten, Ärzte zu erreichen, klärten Ersatzpräparate. Anfragen würden im E-Mail-Posteingang landen, wo sie zusätzliche Zeit kosteten und den Verkauf teils um Tage verzögerten.
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Der Apothekenklima-Index 2024 bestätigt das Ausmaß der Belastung. Von 500 befragten Apotheken geben vier von fünf an, dass die Lieferengpässe zu den größten Ärgernissen im Alltag gehören. Der Index zeigt auch, dass 77 Prozent der Apothekenteams jede Woche zwischen 10 und 40 Stunden allein für die Bewältigung der Engpässe aufbringen – Überstunden und Stress inklusive.
Selbstherstellung und kostspielige Importe
Einige Apotheken versuchen inzwischen sogar, bei besonderen Engpässen dringend benötigte Präparate selbst herzustellen. Doch die Verfügbarkeit der Ausgangsstoffe stellt eine große Hürde dar. „Paracetamol-Säfte für Kinder konnten wir während der Pandemie zeitweise selbst herstellen“, berichtet Jörg Lewik, „aber ohne Zugang zu den nötigen Ausgangsstoffen ist das oft unmöglich.“
Nicht alle Medikamente könnten einfach im Apothekenlabor selber hergestellt werden – oft bleibe nur der teure Import aus dem Ausland, ergänzte Thomas Preis. Bei Kochsalzlösung, einem Grundprodukt für Kliniken und Arztpraxen, hat die Bundesregierung vor wenigen Wochen offiziell einen Lieferengpass ausgerufen, sodass nun auf internationale Vorräte zurückgegriffen werden könne. Auch Salbutamol, ein wichtiges Medikament zur Behandlung von Atemwegserkrankungen, stehe kaum noch zur Verfügung. „Das sei ein Kraftakt ohne Ende“, betonte Preis.
Ruf nach mehr Handlungsfreiheit und Unterstützung
Die Apotheken setzen alles daran, trotz der Engpässe Lösungen zu finden. „Aber unsere Handlungsmöglichkeiten sind begrenzt“, betont Grunsky. Zudem bedrohe abseits der Lieferengpässe auch die wirtschaftliche Situation viele Apotheken. „Die Zahl der Schließungen steigt rasant“, warnt Grunsky. „Ohne Inflationsausgleich und bei stark steigenden Kosten geraten viele Apotheken wirtschaftlich unter Druck“. Hält dieser Trend an, könnte sich die Versorgungssituation weiter verschärfen.
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Politische Ursachen und wirtschaftlicher Druck
Die Medikamentenengpässe haben tiefgehende, strukturelle Ursachen. Niedrige Preise und strenge Rabattverträge der Krankenkassen machen die Produktion in Deutschland für viele Hersteller unattraktiv. Stattdessen stammen die Wirkstoffe mittlerweile größtenteils aus Indien und China – und mit dieser Abhängigkeit wächst das Risiko einer weiteren Verschärfung von Liefer- und Versorgungsengpässen. .
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„Rund jede zweite Verordnung, die Patienten in Apotheken einreichen, ist aktuell von Lieferengpässen betroffen. “
Wo früher zahlreiche Hersteller am Markt waren, gibt es heute nur noch wenige. „Fällt einer aus, entstehen Engpässe. Ein Dominoeffekt“, sagt Preis. Hinzu kommt, dass sich aufgrund der niedrigen Preise immer mehr Hersteller aus der Produktion zurückziehen. Bei Fiebersäften für Kinder gab es früher bis zu 15 Anbieter, jetzt sind es nur noch zwei oder drei.
Die kalte Jahreszeit und der Medikamentenmangel
Mit dem nahenden Winter wächst die Sorge um eine erneute Zuspitzung der Medikamentenknappheit. „Vor der Erkältungssaison haben die Apotheken die Vorräte bis zum Rand gefüllt,“ erklärt Nina Grunsky. „Doch die Lagerkapazitäten sind begrenzt, und wenn die Nachfrage steigt, stoßen wir bald an unsere Grenzen.“
Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein, bringt die Unsicherheit auf den Punkt: „Jeden Winter dieselbe bange Frage – wie schwer wird uns die Infektionswelle treffen? Werden die Vorräte ausreichen? Können die Hersteller die Versorgung sicherstellen?“
Jörg Lewik, Inhaber der Stern-Apotheke, blickt nachdenklich auf die scheinbar gefüllten Regale. „Die Engpässe sind inzwischen auch für unsere Patienten spürbar,“ sagt er mit einem leisen Seufzen. „Manche Medikamente sind nur verzögert verfügbar, oft bleiben uns nur Alternativen.“ Dann fügt er hinzu: „Wir hoffen, dass sich die Lage bald entspannt – aber sicher ist das nicht.“