Essen. In NRW ist die Zahl der Pflegeanträge massiv gestiegen. Fachleute ziehen eine überraschende Parallele und fordern Video-Begutachtung.

Fachleute beobachten mit Sorge, dass soziale Nöte Menschen offenbar immer früher in die Pflege drängen. Weil das Einkommen nicht reiche, hofften sie aufs Pflegegeld.

„Wir sehen in den vergangenen Jahren einen klaren Zusammenhang zwischen den Inflationsraten und dem Anstieg der Pflegegrad-Anträge“, sagt Dirk Janssen, Vorstand des BKK-Landesverbandes Nordwest, dieser Redaktion. Allein in NRW sei die Zahl der Anträge auf eine sogenannte Pflegebegutachtung seit 2020 um 29 Prozent gestiegen. „Dieser Anstieg ist durch Demografie allein nicht mehr zu erklären, sondern ein soziales Problem. Wenn dieser Trend auch nur teilweise so weiter geht, hat das ganz erhebliche Konsequenzen für die Frage, wie viele Pflegekräfte wir künftig brauchen und wie diese Menschen versorgt werden können“, sagt Janssen. Der Druck im System werde massiv steigen.

Mehr Menschen wollen Anspruch auf Pflegeleistungen geltend machen

Pflegebedürftigekönnen in Deutschland Pflegegeld und professionelle Pflege erhalten. Die Höhe der Leistung hängt vom jeweiligen Pflegegrad ab. Entscheidend ist eine Begutachtung des Medizinischen Dienstes, der einen Versicherten zu Hause besucht und anhand eines umfangreichen Fragenkatalogs im rund einstündigen Gespräch prüft, wie selbstständig jemand noch ist.

Im Coronajahr 2020 gab es in NRW noch rund 620.000 Begutachtungen, im ersten Jahr des Ukrainekriegs 2022 waren es schon 753.000, ein Jahr später dann über 810.000. Im Vergleich zu 2022 seien im vergangenen Jahr, dem zweitteuersten Jahr für die Verbraucher seit der Wiedervereinigung, rund 17 Prozent mehr Geldleistungen beantragt worden.

Carola Engler ist die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund. Sie sagt: „Je mehr Menschen in die Altersarmut kommen, umso mehr merken wir, dass diese Menschen in Beratungsstellen den Hinweis bekommen, einen Antrag auf einen Pflegegrad zu stellen.“
Carola Engler ist die stellvertretende Vorstandsvorsitzende des Medizinischen Dienstes Bund. Sie sagt: „Je mehr Menschen in die Altersarmut kommen, umso mehr merken wir, dass diese Menschen in Beratungsstellen den Hinweis bekommen, einen Antrag auf einen Pflegegrad zu stellen.“ © MD | Christian Hüller

Unterstützung erhält der Verband der Betriebskrankenkassen vom Medizinischen Dienst Bund, der die Interessen der 15 Medizinischen Dienste in den Ländern vertritt. „Je mehr Menschen in die Altersarmut kommen, umso mehr merken wir, dass diese Menschen in Beratungsstellen den Hinweis bekommen, einen Antrag auf einen Pflegegrad zu stellen“, sagt Carola Engler, stellvertretende Vorstandsvorsitzende. „2023 haben wir diese Entwicklung sehr deutlich gesehen. Mit den Krisen und den gestiegenen Energiekosten haben wir deutlich mehr Anträge registriert.“

Anträge auf höheren Pflegegrad haben sich mehr als verdoppelt

Die Vize-Chefin des Medizinischen Dienstes Bund nennt noch einen weiteren Grund: Seit der Pflegereform 2017 gibt es fünf feinere Pflegegrade statt drei grober Stufen. Allein diese Veränderung führe dazu, dass häufiger Fälle bearbeitet werden, in denen Menschen einen höheren Pflegegrad beantragten. Seit 2016 seien die Anzahl dieser Anträge um 117 Prozent bundesweit gestiegen.

Die insgesamt hohe Fallzahl bringt die Medizinischen Dienste zunehmend an ihre Grenzen. Noch sei das Aufkommen zu stemmen, aber man laufe sehenden Auges auf die Wand zu, so Engler. „Da können wir noch so sehr unsere Abläufe nachbessern, irgendwann reicht das nicht mehr.“ Stapeln sich Anträge, müssen Menschen länger auf ihre Hilfen warten.

2023 habe es im Schnitt 17 Arbeitstage gedauert, bis ein Pflegeantrag bearbeitet war. Die gesetzliche Frist liegt bei 25 Tagen. Beschäftigte arbeiteten aber freiwillig auch samstags, um das Pensum zu schaffen, zudem werde Personal aufgestockt. Das wiederum führt regelmäßig zu Klagen von Pflegeunternehmen.

Dirk Janssen, Vorstand des BKK Landesverbandes Nordwest, warnt vor dem steigenden Druck in der Pflege.
Dirk Janssen, Vorstand des BKK Landesverbandes Nordwest, warnt vor dem steigenden Druck in der Pflege. © BBK Landesverband Nordwest | BBK Landesverband Nordwest

Der BKK-Landesverband und der Medizinische Dienst Bund fordern Veränderungen, um das System zu entlasten. Pflegebegutachtungen sollten abgespeckt werden, Hausbesuche, die auch für Angehörige oft mit Aufwand und Aufregung verbunden sind, sollten leichter durch Video-Gespräche ersetzt werden können. Video-Gespräche sind bislang streng reglementiert, eine Lockerung könne aber auch die Angehörigen entlasten, so Engler. „Ausgerechnet beipflegebedürftigen Kindern dürfen wir keine Video-Begutachtungen durchführen. Dabei geht es gerade hier um junge Familien, die eh schon unter einem enormen Druck sind und die Entlastung brauchen“, sagt die Vize-Chefin.

Können die Hausärzte zentralere Rolle übernehmen

Der BKK-Landesverbandschef Dirk Janssen wirbt zudem dafür, Betroffene breiter über alle Hilfen zu beraten, die ihnen in sozialen Schieflagen zustehen. „Es ist auch zu überlegen, inwieweit die Hausärzte, die ihre Patienten ja gut kennen, in die Steuerung von Pflegebegutachtungsanträgen einbezogen werden können.“

Janssen betont, dass es nicht darum gehe, den Zugang zu Leistungen zu begrenzen. „Wir brauchen aber eine gesamtgesellschaftliche Lösung für diese Entwicklung.“ Altersarmut könne die Pflegeversicherung nicht lösen.