Essen. Heute steht der Bus, morgen die S-Bahn. Die Leute sind nur noch genervt. Warum die Gewerkschaften viel aufs Spiel setzen. Ein Kommentar.
Ich mag keine Kommentare in Ich-Form. Daran, dass ich jetzt selbst einen schreibe, ist Claus Weselskys schuld. Denn seine Art, die Akzeptanz der guten deutschen Tariftradition zu zerstören, nehme ich persönlich. Als bekennender Verfechter der Tarifautonomie und des Streikrechts habe ich unzählige Streiks gerechtfertigt - vor unseren Leserinnen und Lesern sowie vor meinen Kolleginnen und Kollegen.
Sie waren wie so viele oft genervt von geschlossenen Kitas, ungeleerten Mülltonnen, Trecker-Blockaden oder eben den Bahnen und Bussen, die nicht mehr fahren. Dass es trotzdem richtig und gut ist, wie Gewerkschaften und Arbeitgeber in Deutschland über die Löhne streiten; dass Streiks nichts bringen, wenn sie niemanden nerven; dass unser Tarifsystem eben nicht zu französischen Verhältnissen führt, die das gesamte Land lahmlegen, wurde ich nicht müde zu betonen. Und nach zwei Jahrzehnten als Tarifbeobachter bin ich immer noch absolut überzeugt davon, dass unsere Art der Lohnfindung mit die beste weltweit ist und unserem Land guttut.
Faktisch wird in Deutschland immer noch vergleichsweise selten gestreikt - in den ersten Monaten dieses Jahres allerdings gefühlt jeden Tag. Am Mittwoch steht noch der Nahverkehr, ab Donnerstag legen die Lokführer schon wieder den Fernverkehr lahm. Weil sie es können. Und weil sich ihr scheidender Gewerkschaftschef zum Abschied ein Denkmal setzen will.
„Die spinnen doch“, „jetzt reicht‘s aber doch wirklich mal“ und „die machen alles kaputt“ waren die spontanen Reaktionen, die ich vergangene Woche im Freundes- und Kollegenkreis hörte, als Verdi am Freitag noch den Nahverkehr lahmlegte und schon den nächsten Streik für diese Woche ankündigte. Weselskys neuerlicher Streikaufruf wird nur noch mit Sarkasmus und Zynismus vernommen. Dass die Kommentare auch von Menschen kommen, die der Mitbestimmung nicht nur zugetan sind, sondern sie auch aktiv betreiben, ist neu. Es ist etwas ins Rutschen geraten. Und das ist nicht gut.
Die Reisenden sind Lokführer-Chef Weselsky völlig egal
Genau aus diesem Grund dürften auch die allermeisten Gewerkschaften ihr Problem mit Claus Weselsky haben. Sie legen selbst ganze Betriebe oder gar Branchen lahm, wenn es sein muss. Das ist ihre stärkste Waffe in Tarifauseinandersetzungen. Das ist legitim - auch für kleine Gewerkschaften, die mit wenig Aufwand maximalen Schaden anrichten können, weil ihre Mitglieder die Güter und Menschen durchs Land fahren - oder eben nicht. Weil sie damit aber Unbeteiligte treffen, müssen die Lokführer ihre Streiks umso besser rechtfertigen. Nur schert sich ein Weselsky darum in seiner letzten Tarifrunde gar nicht mehr.
Die anfänglich breite Zustimmung im Land ist längst gekippt. Das wird den Lokführern mit ihrer verantwortungsvollen wie harten Schichtarbeit übrigens nicht gerecht. Weder in den ICEs noch in Regionalzügen, S-Bahnen und den Bussen und Straßenbahnen im Nahverkehr. Sie brauchen Arbeitszeiten, die mit ihrem Privatleben halbwegs kompatibel sind. Ohne die wird es sehr bald nicht mehr genügend Frauen und Männer geben, die uns durch Stadt und Land fahren. Deutschlands Traum vom massenhaften Umstieg auf Bus und Bahn wird dann ausgeträumt sein. 49-Euro-Ticket hin oder her.
Die Leute wittern Machtmissbrauch - und werden sauer
Das kann niemand wollen. Dass der Rückhalt der Leute für die Beschäftigten dennoch schwindet, liegt einzig und allein daran, dass sie einen Machtmissbrauch auf ihre Kosten wittern. Anders als etwa im Handel oder der Gastronomie haben die Gewerkschaften im Verkehr die Macht, den Betrieb mal eben komplett stillzulegen. Geschieht das ohne erkennbare Not, werden die Leute sauer.
Schon Verdi reitet hier auf der Rasierklinge. Die Gewerkschaft ließ in NRW schon nach der ersten Verhandlungsrunde, in der seit eh und je nur die groben Linien abgeklopft, aber keine Abschlüsse erzielt werden, streiken. Und nach der zweiten rief Verdi gleich mehrfach zu mehrtägigen Warnstreiks auf. Das muss nicht jeder verhältnismäßig finden. Ein Streik als ultima ratio, wenn sich gar nichts mehr bewegt, ist das aber ganz sicher nicht.
GDL verabschiedet sich aus dem Konsensmodell namens Tarifsystem
Weselsky ist gleichwohl nicht zu toppen, er hat sich komplett aus dem Konsensmodell namens Tarifsystem verabschiedet. Mehrfach hat er auf neue Angebote der Bahn mit neuen Streiks oder Streikandrohungen reagiert. Das Aussetzen Ende Januar weckte die Hoffnung, dass man sich doch noch am Verhandlungstisch einigen könnte. Warum es wieder nichts geworden ist, lässt sich von außen schwer beurteilen. Deshalb ist die bloße Nachricht, dass Weselsky wieder streiken lassen will, auch gar nicht das, was mich jetzt aufregt.
Es ist die arrogante Art des Gewerkschaftsbosses, mit der er die Leidtragenden behandelt. Denn diesmal betont Weselsky, dass künftige Streiks nicht mehr frühzeitig angekündigt würden. Damit trifft er allein die Reisenden. Damit beschert er den Leidtragenden noch mehr Unsicherheit, er greift massiv in ihren Alltag ein. Damit bestraft er jene, die mit ihren Tickets die Löhne der Lokführer bezahlen.
CDU-Chef Merz fordert bereits eine Einschränkung des Streikrechts
Dass er damit jedes Verständnis für sich und seine GDL verspielt, ist eine Sache. Viel schlimmer ist, dass er dem gesamten Tarifmodell unseres Landes schadet. Denn es funktioniert nur, weil es von einer breiten Akzeptanz in der Bevölkerung getragen wird. Weil die Leute eben doch in aller Regel Verständnis für Streiks haben, auch wenn sie selbst davon betroffen sind. Ohne dieses Verständnis passiert Folgendes: Stimmen aus der Wirtschaft und der Opposition (vorneweg CDU-Chef Friedrich Merz) fordern eine Einschränkung des Streikrechts. Glückwunsch, Herr Weselsky.
Macht er weiter so, wird es das sein, was als sein Vermächtnis in Erinnerung bleibt. Und nicht ein letzter hoher Abschluss. Das Denkmal eines Riesenegos, das der Tarifbewegung ein Bärendienst erwiesen hat.