Essen. IGBCE-Chef Vassiliadis warnt vor einem Erstarken von „Radikalen und Populisten“ in der Krise. Ein „Power-Cocktail“ sei jetzt nötig.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft IGBCE, Michael Vassiliadis, sieht Deutschland in einer „Vielfachkrise“. Längst hätten Zukunftspessimismus und finanzielle Sorgen auch die „breite Mittelschicht“ unter den Beschäftigten erreicht, zu denen nach Einschätzung des Gewerkschaftschefs die meisten IGBCE-Mitglieder zählen. Vassiliadis beruft sich auf das Ergebnis einer gewerkschaftsinternen Umfrage mit 3300 Teilnehmern. Demnach müssen sich drei von vier Beschäftigten in den IGBCE-Branchen beim Haushaltsbudget einschränken. Mehr als jeder zweite Befragte beurteile seine persönliche wirtschaftliche Lage momentan als schlechter im Vergleich zum Vorjahr. 59 Prozent blicken für sich persönlich pessimistisch auf das Jahr 2024.
„Eine gefährliche Grundstimmung aus Abstiegsängsten und Staatsverdrossenheit macht sich in der Bevölkerung breit, die allein den Radikalen und Populisten in die Hände spielt“, warnt Vassiliadis. Eine weltweite Nachfrageschwäche, aber auch „hausgemachte Probleme“ seien zu einer Belastung für die Bundesrepublik geworden. „Die Stimmung ist schlecht“, konstatiert der Gewerkschaftsvorsitzende.
Nötig sei jetzt ein „Power-Cocktail“ fürs Land, sagt Vassiliadis. „Die Zutaten sind spürbare Entgeltsteigerungen für die Beschäftigten, um Reallohnverlusten ein Ende zu setzen, massive Investitionen in die Transformation der Industrie und die Modernisierung der Infrastruktur sowie niedrigere, wettbewerbsfähige Energiepreise.“
Einflussreich in Unternehmen wie BASF, Henkel, Steag und RAG
Die IGBCE ist mit mehr als 570.000 Mitgliedern nach der IG Metall die zweitgrößte Industriegewerkschaft Deutschlands. Sie ist in Branchen wie Chemie und Pharma, Energie und Bergbau sowie Kunststoff, Papier und Glas aktiv. Der IGBCE-Chef, der seit dem Jahr 2009 die Multi-Branchen-Gewerkschaft führt, mischt auch in den Aufsichtsräten mehrerer NRW-Konzerne mit – beim Chemiekonzern Henkel sowie beim Energiekonzern Steag und der RAG. Über das Kuratorium der RAG-Stiftung kann er auch bei der Mehrheitseignerin des Essener Chemiekonzerns Evonik mitreden. Zum Kreis der Kontrolleure des Chemieriesen BASF gehört Vassiliadis ebenfalls.
Die Bundesregierung habe aus der Haushaltskrise „die falschen Schlüsse gezogen“ und müsse nun umsteuern, mahnt Vassiliadis. „Wir brauchen keine Kahlschlag-Sparkeule, wir brauchen eine Investitionsoffensive in die klimagerechte Modernisierung unserer Industrie.“ Der Umbau der Industrie könne nur mit massiver staatlicher Unterstützung gelingen.
Besonders groß ist der Investitionsbedarf in Sachen Transformation bei den energieintensiven Industrien, an denen nach Angaben der IGBCE rund 2,4 Millionen Arbeitsplätze hängen. Die Betriebe hätten nicht nur mit einer globalen Marktschwäche zu kämpfen, sondern vor allem mit „überhöhten“ Energiepreisen. „Die Folgen spüren wir bereits“, berichtet Vassiliadis in Berlin bei einer auch digital übertragenen Pressekonferenz. Die Produktion der energieintensiven Unternehmen sei bereits um 20 Prozent geschrumpft. Nach Darstellung der IGBCE werden Anlagen stillgelegt, Tausende Arbeitsplätze gestrichen, ganze Standorte geschlossen. In Bereichen wie der Metall-, Papier- und Reifenproduktion sehe es düster aus. „Es droht ein Exodus entscheidender Produktionsstufen am Beginn der industriellen Wertschöpfungskette“, warnt Vassiliadis.
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„Es droht speziell in Chemieparks ein Dominoeffekt“, gibt Vassiliadis zu bedenken. Sollten wichtige Anlagen in der stark vernetzten Industrie aus wirtschaftlichen Gründen abgestellt werden, könne sich die Krise von einem auch auf andere Unternehmen übertragen. Das Ziel müsse daher sein, den Preis von Grünstrom für die Industrie deutlich zu drücken.