Mülheim. Der verschollene Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub wurde für tot erklärt. Es gibt neue Indizien, dass er in Russland untergetaucht sein könnte.

Staatsanwaltschaft und Amtsgericht Köln haben keinerlei Zweifel, dass der frühere Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub tot ist. Und trotzdem gehen die Spekulationen weiter, dass der Milliardär noch leben könnte. Warum die Debatte um das Schicksal des prominenten Mülheimer Unternehmers nicht abreißt.

Was ist an jenem 7. April 2018 im schweizerischen Zermatt wirklich passiert, als Karl-Erivan Haub nicht mehr von einem Skiausflug in den Alpen zurückkehrte? Formal ist die Frage längst beantwortet. Am 23. Juni 2021 erklärte das Amtsgericht Köln den Mann offiziell für tot: „Die gesetzliche Vermutung, dass der Verschollene in dem im Beschluss festgestellten Zeitpunkt gestorben ist, ist damit rechtlich wirksam“, teilte das Gericht nüchtern mit. Es war eine Entscheidung nach Aktenlage, nachdem sich weder Karl-Erivan Haub selbst noch Zeugen auf einen entsprechenden Aufruf gemeldet hatten.

Unsere Textauswahl zum Haub-Komplex:

Teil 2: Wirbel um angebliche Fotos von Haub in Moskau 2021

Editorial: Warum für Journalisten die Suche nach Karl-Erivan Haub weitergeht

Das Interview mit Christian Haub 2020: „Wie Tengelmann-Chef Haub mit dem verschollenen Bruder brach“

Da bislang kein Leichnam gefunden wurde und die Umstände seines Verschwindens nie aufgeklärt wurden, bleiben Zweifel. Am Dienstag will die RTL-Journalistin Liv von Boetticher, die bereits das Buch „Die Akte Tengelmann“ herausgebracht hat, in einem sechsteiligen Podcast der Produktionsgesellschaft Podimo neue Erkenntnisse präsentieren, die die These unterstützen sollen, dass Haub in Moskau untergetaucht sein könnte. „Nach der Veröffentlichung des Buchs im Frühsommer haben sich mehrere Zeitzeugen aus dem inneren Kreis von Tengelmann und der Familie gemeldet, welche neue Details rund um Herrn Haubs dubiose Russland-Verbindungen liefern. Diese Personen kommen im Podcast ausführlich zu Wort. „Sie alle glaubten nie an einen Unfall“, sagt von Boetticher.

Bislang wurde kein Leichnam gefunden

Beweise dafür gibt es freilich nicht. Stattdessen viele offene Fragen und Indizien, die zwei Privatermittler kurz nach dem Verschwinden von Haub in Berichten zusammengetragen haben, die unsere Redaktion einsehen konnte. Beide kennen Unternehmen und Familie gut. Einer der beiden Ermittler war lange Jahre konzerneigener Sicherheitschef bei Tengelmann.

Berichte der Ermittler lesen sich wie ein Krimi

Ihre Schilderungen in den Papieren lesen sich wie ein Krimi: Danach soll der damalige Tengelmann-Chef Karl-Erivan Haub über Jahre als Agent für den russischen Geheimdienst FSB tätig gewesen sein. Weil die Geheimdienste der USA im Frühjahr 2018 kurz davor gestanden hätten, Haub zu enttarnen, habe dieser nach Russland fliehen müssen.

Die Zahl der Auffälligkeiten, über die in Teilen auch unsere Redaktion bereits berichtet hat, ist groß, und lassen eine Rekonstruktion der Ereignisse zu. Den Ermittlern zufolge hat Karl-Erivan Haub mitten in der Nacht zum 6. April 2018 um ein Uhr den Piloten seines Privatflugzeugs per Whatsapp darüber informiert, dass er am nächsten Tag nicht nach Grenoble, sondern nach Zermatt fliegen wolle. Um sich auf den „Patrouille des Glacier“ vorzubereiten, hatte Haubs Personal Trainerin den Berichten zufolge für das Wochenende „Erholung“ angeordnet und sich anschließend überrascht gezeigt, dass der 58-Jährige, der nicht als Draufgänger galt, ihren Rat nicht befolgt habe.

Karl-Erivan Haub startete Bergtour auf eigene Faust

Stattdessen brach Haub am frühen Samstagmorgen um 7.30 Uhr in Zermatt auf eigene Faust zu einer Bergtour auf. Untypischerweise allein, mit leichter Bekleidung und mit abgeschaltetem Handy. Einer der Privatermittler hält es laut den Protokollen für möglich, dass der Tengelmann-Chef auf Skiern unerkannt zur italienischen Seite in Richtung Livigno abgefahren und dort in einer „russischen Kommune“ untergetaucht sei, um später heimlich nach Russland gebracht zu werden. Beweise dafür gibt es freilich nicht.

Zahlreiche Hubschrauber suchten im April 2018 im schweizerischen Zermatt nach dem vermissten Tengelmann-Chef Karl Erivan Haub.
Zahlreiche Hubschrauber suchten im April 2018 im schweizerischen Zermatt nach dem vermissten Tengelmann-Chef Karl Erivan Haub. © picture alliance / Philippe Mooser/KEYSTONE/dpapicture alliance / Philippe Moos | Philippe Mooser

In einem Bericht der Sicherheitsfirma TSG, die bis 2021 zur Tengelmann-Gruppe gehörte, heißt es, dass bei der Suche nach Karl-Erivan Haub bis zu sechs Hubschrauber und 60 Bergretter im Einsatz waren. Es sei die größte Suchaktion gewesen, die es jemals am Matterhorn gegeben habe. Dennoch ohne Erfolg. Als die Rettungsaktion am 14. April 2018 offiziell eingestellt wird, geht der Geschäftsführer der Sicherheitsfirma, der bis 2010 bei der Konzernsicherheit von RWE gearbeitet hatte, nur noch zu fünf Prozent von einem Bergunfall aus, dafür aber zu 90 Prozent von einem „Verschwinden“ Haubs.

Unter der Rubrik „Unstimmigkeiten“ vermerkt er den Punkt „mehrere hundert Millionen aus Privatvermögen KEH vermisst“. Im Umfeld der Tengelmann-Gruppe wird die Höhe der Summe allerdings bezweifelt.

108-minütiges Telefonat mit Veronika E. in St. Petersburg

Aus einer Liste abgehender Telefonate über das Tengelmann-Diensthandy, die den Berichten der Ermittler beigefügt ist, geht hervor, dass der Manager am Abend vor seinem Verschwinden 108 Minuten lang mit seiner vermeintlichen russischen Geliebten Veronika E. in St. Petersburg telefoniert hat. Auch sie soll für den russischen Geheimdienst gearbeitet haben. Haubs letzter Anruf ging der Liste zufolge aber um 22.43 Uhr in den US-Bundesstaat Wyoming, wo er offenbar erfolglos seine Frau Katrin erreichen wollte. Dort, auf der Ranch der Familie, war rund vier Wochen zuvor sein Vater Erivan Haub gestorben. Karl-Erivan Haubs Verhältnis zu seiner Mutter Helga galt als äußerst innig.

Zu den Unterlagen, die unsere Redaktion einsehen konnte, gehört auch ein Protokoll der Tengelmann-Unternehmenssicherheit, das akribisch jeden Schritt auflistet, den Karl-Erivan Haub getan haben soll, nachdem er am 6. April 2018 um 18 Uhr im Luxushotel The Omnia in Zermatt eingecheckt hatte. Den Aufzeichnungen zufolge verabredet er sich am Tag seines Verschwindens um 7.07 Uhr per Whatsapp mit einer Freundin seiner Ehefrau Katrin auf der Hütte Hennustall für denselben Tag. Die Antwort der Freundin kann den Angaben zufolge aber nicht mehr auf Haubs Smartphone zugestellt werden. Um 9.09 Uhr registriert die Tengelmann-Sicherheit den „letzten Point of Contact“ mit dem Konzernchef – als er den Skilift an der Bergstation Klein Matterhorn verlässt.

Rund drei Wochen vor seinem Verschwinden würdigte Karl-Erivan Haub beim Tengelmann-E-Say in Mülheim seinen Vater und Vorgänger als Tengelmann-Chef. Der Patriarch Erivan Haub war am 6. März 2018 im Alter von 85 Jahren gestorben.
Rund drei Wochen vor seinem Verschwinden würdigte Karl-Erivan Haub beim Tengelmann-E-Say in Mülheim seinen Vater und Vorgänger als Tengelmann-Chef. Der Patriarch Erivan Haub war am 6. März 2018 im Alter von 85 Jahren gestorben. © Lars Heidrich / FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Die Durchsuchung der Hotelsuite des Unternehmers verläuft nach Angaben der Tengelmann-Unternehmenssicherheit ohne besondere Erkenntnis. Am 9. April informiert Christian Haub, der wenige Tage später allein die Führung der Tengelmann-Gruppe übernimmt, das Bundeskanzleramt über das Verschwinden seines Bruders. Die Haubs standen der CDU nahe und unterstützten in Bundestagswahlkämpfen zuweilen christdemokratische Kandidatinnen und Kandidaten mit Anzeigen. Im Sommer 2009 besuchte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Tengelmann-Zentrale in Mülheim. Bei der 150-Jahr-Feier des Konzerns in Mülheim sprachen NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und Außenminister Sigmar Gabriel (SPD).

Bruder Georg Haub zog Antrag auf Todeserklärung plötzlich zurück

Obwohl nie eine Leiche gefunden wird, erklärt das Amtsgericht Köln Karl-Erivan Haub am 23. Juni 2021 offiziell für tot und bestimmt den Todestag auf den 7. April 2018. Den Antrag hatten seine Ehefrau Katrin, die Kinder Viktoria und Erivan, Bruder Christian und die Unternehmensgruppe Tengelmann gestellt. Der zweite Bruder Georg hatte seine Beteiligung an dem gemeinsamen Antrag kurzfristig zurückgezogen. Die Bild-Zeitung meldete am 21. Januar 2021 unter Berufung auf Familienkreise, Georg Haub glaube daran, dass sein Bruder lebe. Es habe sogar ein „heimliches Telefonat“ mit dem Verschollenen gegeben. Bewiesen ist auch das freilich nicht.

Das Verhältnis der drei Haub-Brüder galt seit jeher als angespannt und war von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Georg, der schon früh sein Drittel an der Tengelmann-Gruppe zu Geld machen wollte, ließ Karl-Erivan eine Zeit lang detektivisch überwachen. Das operative Geschäft teilten sich Christian und Karl-Erivan, Doch nur nach außen hin herrschte Bruderliebe zwischen den beiden Top-Managern. Wie sehr er unter seinem Bruder gelitten hatte, offenbarte Christian Haub erstmals in einem WAZ-Interview. „Mein Bruder Karl-Erivan hatte schon immer einen Macht- und Alleinvertretungs-Anspruch unter uns drei Brüdern erhoben und wurde darin von meinen Eltern, als deren Lieblingssohn er galt, auch noch unterstützt“, sagte Christian Haub im Oktober 2020.

Christian Haub: „Für Untertauchen fehlt ein Motiv“

Inzwischen hat Christian Haub für 1,7 Milliarden Euro die Firmenanteile von Karl-Erivan übernommen. In absehbarer Zeit wird Christian Alleininhaber der Tengelmann-Gruppe sein. Es gibt eine Übereinkunft, dass er auch den Anteil von Georg Haub erwirbt.

In einer eidesstattlichen Versicherung, die unserer Redaktion vorliegt, hatte der neue Tengelmann-Chef Christian Haub am 10. Mai 2021 vor dem Amtsgericht Köln erklärt, dass ihm „keine belastbaren Hinweise, geschweige denn Beweise“ dafür vorlägen, dass „mein Bruder Charlie noch leben könnte“. Haub wörtlich: „Ich war von Anfang an überzeugt, dass mein Bruder tödlich verunglückt ist. Für ein Untertauchen fehlt es weit und breit an einem Motiv.“ Um den Gerüchten über Karl-Erivan Haubs Fortleben in Russland nachzugehen, habe er Ende 2020 einen externen Sicherheitsdienst beauftragt. Ergebnis: „Bisher haben sich keinerlei neue Erkenntnisse ergeben, die Anlass gäben, meine bisherige Beurteilung in Frage zu stellen“, heißt es in der eidesstattlichen Versicherung.

Journalistin von Boetticher: Strafanzeige gegen Christian Haub

Die RTL-Journalistin Liv von Boetticher ist dagegen fest davon überzeugt, dass Karl-Erivan Haub noch lebt und hat am 17. Mai 2023 Strafanzeige gegen Christian Haub wegen des Verdachts des Meineids gestellt. Von Boetticher schreibt in ihrem Buch „Die Akte Tengelmann“, dass die Privatermittler, deren Namen sie nicht nennt, bereits im Jahr 2020 Erkenntnisse darüber gehabt haben sollen, dass ein Foto des lebenden Karl-Erivan Haub für 100.000 Euro zu kaufen sei. Es gebe auch Informationen über dessen neuen Namen und Aufenthaltsort.

Die Unternehmensgruppe Tengelmann wollte sich auf Anfrage unserer Redaktion nicht dazu äußern, ob sie im Besitz dieses vermeintlichen Fotos ist. Im Konzernumfeld wird allerdings versichert, dass der Firma oder Christian Haub kein entsprechendes Material vorliege.

Staatsanwaltschaft Köln: Kein Grund für Aufhebung der Todeserklärung

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Die Staatsanwaltschaft Köln sieht allerdings „keine Voraussetzungen für einen Antrag auf Aufhebung der Todeserklärung“, wie sie erklärte. Die Frage unserer Redaktion, ob die Anzeige gegen Christian Haub weiter verfolgt werde, beantwortete die Staatsanwältin mit Verweis auf den Schutz von Persönlichkeitsrechten nicht. In einem Schreiben der Behörde heißt es dazu aber klar und deutlich, dass Ermittlungen gegen Christian Haub „nicht in Betracht“ kommen. Die Staatsanwälte argumentieren, dass selbst unter der Annahme, Christian Haub habe die Unwahrheit gesagt, dies kein Beweis dafür sei, dass sein Bruder Karl-Erivan noch lebt.